Montag, 3. Juni 2013

Tag im Leben einer Toten

Mein (nicht untypischer) Tag als Social Media-Redakteurin von ZEIT ONLINE (Disclaimer: Ich liebe diesen Job. Das ist keine Beschwerde, ich kontere nur unlängst gebloggte Behauptungen, Social-Media-Redakteure seien bald überflüssig und ich quasi schon tot), unter spezieller Beachtung der aktuellen Nachrichtenlage (in Istanbul brennt der Taksim-Platz; in Mitteleuropa herrscht Hochwasser)

-Twitter-Liste "Hochwasser" gebaut und auf die Startseite gebracht
-Twitter-Liste "Gezi Park" gebaut und zum einbetten und verlinken fertig gemacht

(Beides sind kuratierte Listen, d.h. nach einer Recherche aus validen, glaubwürdigen Quellen zusammengestellt)

Auf Facebook mit Nutzern Kontakt aufgenommen, die Informationen aus Istanbul und anderen Orten des Protests in der Türkei anbieten; Faktencheck zu Informationen; Vermittlung von glaubwürdigen Quellen in die Ressorts

Recherchieren, was es mit einem Gerücht über die Proteste in der Türkei auf sich hat

Beantworten von Leserfragen und Leserkritik zur Berichterstattung über Istanbul und das Hochwasser via Facebook und Twitter

Evaluieren von Postings der vergangenen Woche: Welche stießen auf das größte Interesse?

Storifyen des Hochwassers mit "Vorher-Nachher"-Bildern

Vorbereiten langfristig geplanter Postings auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen (Abstimmen von Formulierungen und Inhalten quer durch verschiedene Ressorts)

Liegen geblieben: Ganz schön viel. Freude gemacht: Ganz schön viel.


Mittwoch, 30. Januar 2013

Warum #Aufschrei richtig ist

Dann ist es eben eine Kampagne. Ein narrativer Schachzug im Drama, das die FDP-Führung seit Monaten spielt, eine Art Retourkutsche auf den Versuch, Rösler aus dem Amt zu drängen, bevor irgendwelche Wahlergebnisse diesen Schritt plausibel machen könnten. Die Schilderung eines Spitzenpolitikers, der Bemerkungen über den Busen einer Journalistin für angebracht hält und das nächtliche Klopfen an Hotelzimmertüren.

Aber wozu die Debatte um Brüderle geführt hat - selbst wenn ihr Ursprung Kampagnencharakter hat - ist eine öffentliche Demonstration und Dokumentation von Alltagssexismus, die wichtig und gut ist. Weil sie denen, die es betrifft, Mut macht, auszusprechen, was sie belastet und uns zeigt, wie antiquiert und unfrei unser Land ist.

#Aufschrei, das war und ist: Frauen, die davon berichten, wie sie in der Bahn belästigt werden. Mit Anmachen. Mit Beleidigungen, wenn sie nicht so reagieren, wie es sich der Typ vorstellt. Frauen, die davon berichten, wie Vorgesetzte sie dafür loben, gut auszusehen, weil das ja dem Kunden beim nächsten Treffen gefallen könnte - als wären der Beruf eine Art Schönheitswettbewerb und intellektuelle Leistung unwichtig. Frauen, die davon berichten, wie eben diese Kunden noch anrufen, und sich Abendessen mit ihnen ausbedingen, als Bedingung für eine Auftragsvergabe. Frauen, die vom täglichen Trieb über den Viehmarkt berichten. Sind diese Berichte weniger Wert, weil das, was sie auslöste, auch als Mechanismus politischer Berichterstattung gelesen werden kann? Mit der Betonung auf "auch", denn daneben war Brüderles Handeln allemal.

Es ist eben nicht okay, Frauen wie williges Fleisch zu behandeln, das nur darauf wartet, taxiert und libidinöser Verwertung zugeführt zu werden. Es gibt keinen Freibrief und keine Entschuldigung dafür, das Leben mit einem niemals endenden Date zu verwechseln und den Job als eine Art Ehe-Anbahnungsinstitut bzw. müssen die, die das tun, zur Kenntnis nehmen, dass niemand verdient, ihre Sicht der Dinge aufgezwungen zu bekommen.

Beim #Aufschrei geht es auch nicht ums Flirten, weil Flirten heißt, dass zwei sich einig sind - oder zumindest willens, einig zu werden. Der #Aufschrei dokumentiert eben genau das Versagen dessen, was Flirten zum Funktionieren bringt, nämlich das Lesen der Signale des Gegenübers - und das Respektieren von Grenzen. Der Versuch, die Debatte um eine der "richtigen" und "falschen" Flirt-Handlungen zu machen, trivialisiert all das, wofür #Aufschrei steht - eine Dokumentation der alltäglichen Übergriffe, die weit mehr betreffen als ein missglücktes Kompliment an der Club-Bar. Kia Vahland hat es im imho bisher smartesten Text etablierter Medien über die angestoßene Debatte auf den Punkt gebracht: Bei #Aufschrei geht es um den Missbrauch von Macht. Der ist anzuprangern, egal was der Auslöser ist.

Das einzige, was mich am #Aufschrei skeptisch macht, ist der Überschwang, mit der er zum Ausdruck einer neuen Bewegung ausgerufen wird. Aktivismus in Social Media, das ist der Aktivismus derer, die die Privilegien haben, daran teilzunehmen. Sie sind gebildet, sie haben Netzzugang, sie haben die Zeit, sich zu äußern. Viele andere haben das nicht und viele andere gesellschaftliche Anliegen bleiben so unsichtbar. Macht das aber die Aktionen, die auf Twitter sichtbar sind, weniger wichtig? Eher nicht. Solange unser Bewusstsein dafür, dass nicht alles, was soziale Realität und Missstand ist, nur auf Twitter ablesbar ist, scharf bleibt, solange kann #Aufschrei und denen, die ihn ernst nehmen, nicht der Vorwurf der Bigotterie gemacht werden.

Montag, 31. Dezember 2012

Mein 2012

Es mutet seltsam an, nach einem Jahr wie diesem in der Küche zu sitzen, in der ich seit zehn Jahren sitze (und manchmal auch koche, esse und trinke) und zurückzuschauen, schließlich war 2012 eins der Jahre, in dem ich so viel und weit reiste wie nie zuvor, wobei das nicht nur für die zurückgelegten Flugmeilen gilt, sondern vor allem für die Reise durch die inneren Landschaften. Eh wir anfangen, uns meine Leber als eine Art Castrop-Rauxel und meine Niere als inneres Bielefeld vorzustellen, sei klargestellt: Innere Landschaften, damit meine ich die Gegend zwischen linker und rechter Herzklappe und das, was man Gemüt nennt, und von dem keiner, den man zur Haustür einlassen würde, verlässlich sagen kann, wo es sitzt.

Aber dass es da ist und das ich einiges davon in mir trage, das wurde mir 2012 so deutlich wie selten zuvor. Es war ein Jahr mit vielen Zweifeln, mit Mut, mit Angst, deren Überwindung belohnt wurde und dem Gegenteil davon. Ein Jahr, in dem ich das "Don´t cry, work", das ich mir von Rainald Goetz mal als Tagesbeschriftung für die anstrengenden Zeiten geborgt hatte, nicht mehr als Allheilmittel erlebte, sondern als Ausweichen, als Wegdrücken dessen, was mit Macht Aufmerksamkeit fordert. Der scharfe Blick, den man nach außen richten, meint einen selbst. Die Möglichkeit, seiner Gnadenlosigkeit zu entkommen, ist, ihn anzunehmen, ihm Platz zu geben, ihn quasi auf einen Tee in die gute Stube zwischen Bielefeld und Castrop-Rauxel zu bitten und darauf einrichten, dass er länger bleibt. Und dass es besser ist, dafür zu sorgen, dass man selbst gern sein eigener Freund wäre, bevor man von Fremden erwartet, einen zu mögen.

Rauszufinden, was das für mich bedeutet, ist mein Job 2013. 

Genug philosophiert, kommen wir zum Rückblick in Bildern, dessen Öffentlichkeit hier auf dem Blog weniger mit Geltungssucht oder mangelnden Schamgefühl zu tun hat, als einem schlechten Gedächtnis. Was hier dokumentiert ist, das vergesse ich nicht. Vor allem die Umkehrung dieser Formel stimmt mich hoffnungsvoll: Möge der Seelenmüll des letzten Jahres heute Nacht mitsamt einer der 18 Tonnen Schwarzpulver, mit denen Friedrichshain gesprengt wird, entsorgt werden. 


Januar

Mein 2012 startet in Wolkenkratzerhöhe in der Bar des Sheraton in Lissabon. Die Stadt erfreut mich mit köstlichen, kleinen Schweinereien namens Pasteis de Nata, eine Art Puddingteilchen, das dort zu Centbeträgen verkauft wird. Was Gesundheitsförderlichkeit und Preis angeht, sind süße Teilchen in Portugal wohl das, was Bier für Deutschland ist. Ändert nichts dran, dass wir danach süchtig werden und wahrscheinlich auch dieser Tatsache verdanken, unseren Rückflug schlicht zu vergessen. Wir sitzen in einem Café und essen die fiesen Süßteile, als unser Flieger gerade abhebt. Glücklicherweise gibt es das Internet uns eine zweite Rückflugchance.



Februar

Da ich Ende Januar meinen letzten Tag bei local.ch habe und erst im März bei NZZ Online anfange, habe ich den Februar frei. Ohne das Wissen, demnächst arbeitslos und ohne Einkommensquelle dazustehen, ist ein "in between jobs"-Monat große Klasse. Wir feiern das standesgemäß mit dem Zelebrieren der Julianschen Insignien: Eiscreme und Affen. Man könnte auch sagen: Wir fahren nach Florida, essen buntes Eis und besuchen einen Park, in dem nicht die Affen eingesperrt sind, sondern die Menschen in Käfiggängen durch die Welt der Affen geleitet werden. Ich persönlich halte das für das zukunftsfähigste Projekt, das ich seit langem gesehen habe. Außerdem fahre ich Tragflächenboot durch Sumpflandschaften, sehe (wahrscheinlich taube) Alligatoren aus nächster Nähe und habe meine erste Golftrainerstunde. Auf dem Green sagt eine ältere Frau zu mir: "You´re from Switzerland. This makes you full-blooded Swedish." Ich verneine das höflich und erwähne, dass ich aus Deutschland komme und, dass ich, wenn überhaupt, "swiss" wäre. Sie kontert mit einer längeren Abhandlung ihrer Familiengeschichte, die sie mit "So I am full blooded Norwegian" beendet. Überflüssig zu erwähnen, dass sie in Iowa geboren wurde und aufgewachsen ist. Ich merke mir, mit blonden, älteren US-Ladies nicht mehr über meine Herkunft zu sprechen, da einiges in diesen Unterhaltungen darauf hinweist, dass sie auf Ariernachweise oder sowas Wert legen.




März


Die NZZ empfängt mich so, wie man einen neuen Arbeitnehmer empfangen sollte: Sie schickt mich auf die South by Southwest Interactive nach Austin (Texas), die mit Le Web zu den größten internationalen Veranstaltungen zum Thema Internet gehört. Eine Woche lang erfreue ich mich mit Tausenden Bloggern, Start-Up-Gründern, Tech-Journalisten, Beratern und deutschen Internetpersönlichkeiten (die ich auf der Veranstaltung selbst nicht sehe, aber bei der re:publica im gleichen Jahr mit Konferenzshirts aus Austin sehe) an großartigen Keynotes und Interviews, u.a. mit Vic Gundotra, der Google Plus eisern verteidigt und verneint, dass es eine "Geisterstadt" ist oder Al Gore, der eigentlich Sean Parker interviewen soll, aber irgendwie mehr über sein eigenes Unbehagen an den Mitteln der demokratischen Willensbildung der USA äußert, die er mit dem Internet verbessert sehen will - und es schafft, einen Saal von 5000 Leuten fast leer zu quatschen. Ich lerne "Code for America" kennen und schreibe darüber, sehe Baratunde Thurston und treffe die großartige Deanna Zandt wieder. Ich lerne, dass es Sinn ergibt, möglichst in Austin Downtown zu wohnen während der Konferenzzeit, da die Sammeltaxis spätestens an Hotel 4 ihrer Route entlang der Autobahnhotels voll sind. Ich nehme mir vor, zurückzukehren und das South By Southwest Musikfestival dranzuhängen. Höhepunkt der Reise: Essen aus einem Koreanisch-Mexikanischen Foodtruck, Tiefpunkt: Von einem Mitvierziger, mit dem ich mich freundlich (u.a. über seine Familie und Kinder) unterhalten hatte am Ende des Abends nach einem One Night Stand gefragt zu werden. Immerhin schlägt das den Ekel, den die Hauptgerichte im International House of Pancakes, in dem ich zweimal den Fehler mache, zu essen, verursachen. Dort verwechselt man Hühnchen mit Fisch, was bei der Zubereitung mit Balsamico schon ...äh...Folgen hat. Konferenzen. What can you do.


































April

















Keine besonderen Vorkommnisse. Ich spaziere durch Zürich, fahre Ostern zur Familie nach Hause und erfreue mich an der geschmückten Neuen Residenz, einer mittelalterlichen tja..äh..Residenz in der Innenstadt. Am Ende des Monats bekomme ich einen wundervollen gelben Rosenstrauß (vom Chef) und ein 7-Gänge-Menü (vm Mann), weil ich ein Jahr länger auf der Welt bin. So in der Art kann´s eigentlich weitergehen. Tut´s aber nicht.
















Mai

Wendepunkt. Ich fahre zur re:publica nach Berlin und berichte darüber für NZZ.ch. Während der Berliner Woche schaue ich am Askanischen Platz vorbei und stelle mich auf Einladung von Wolfgang Blau dem Führungsteam von ZEIT ONLINE vor. Es gibt eine Stelle zu besetzen und Wolfgang, den ich bis dahin nur über Social Media-Kanäle kenne, meint, das wäre was für mich. Nach den Gesprächen in Berlin denke ich das auch. Die Wochen danach werden ein ziemliches Tauziehen und erschöpfend. Vieles spricht dafür, in Zürich zu bleiben. Vieles spricht für Berlin. Am Ende gewinnt die ewig junge Stadt. Außerdem im Mai: Hochzeit von Christiane und Moritz Adler, der mich erst aus Berlin nach Zürich geholt hatte - natürlich via Twitter. Konsequenterweise hat dieses (großartige) Fest dann auch einen Hashtag.

















Juni

Vor dem Neustart in Berlin wartet ein Wochenende in Stockholm. Ich kenne Schweden nur von einer Klassenfahrt 13 Jahre zuvor. Vorherrschende Erinnerung: Unsere Gastgeber brachten beim gemeinsamen Clubbesuch ihren Alkohol selbst mit und versteckten ihn in den Büschen vor der Lokalität, um dann draußen zu trinken, weil ein Bier ungefähr soviel kostete wie eine Brauerei in Deutschland. Gefühlt! Ich war ja damals sehr jung. Mein neuerlicher Schwedenbesuch ist deutlich weniger geprägt von Beobachtungen zum Thema Alkohol, dafür gibt es eine Tagestour auf eine dieser Inga Lindström-Inseln und viel Gestiefel durch die Altstadt. Wundervoll.
























Juli

Ankommen in Berlin, sich darüber freuen, die Stadt wieder mit Menschen, die Godzilla als Rucksack benutzen, zu teilen. Fahre das erste Mal zum Stammsitz der gedruckten ZEIT, an den Speersort nach Hamburg. Fahre zum Paleo-Festival nach Nyon bei Genf. Verliebe mich in französische Wochenmärkte und denke, dass das nun das Alter ist.














August

Sommerpause.





















September

 Berlin Festival. Eine Wochenende auf Usedom. Eine Hochzeit in Mala Skala, dank Navigationsgerät finden wir hervorragend hin und entdecken auf dem Rückweg das zauberhafte Polen, da uns Brücken als befahrbar angezeigt werden, die gesperrt sind. Ich bemerke unsere Abwege am Radioprogramm und an den Fahren am Straßenrand. Viele Wege führen nach Berlin, wir kommen an. Im September stirbt die Mutter meines Vaters. Ich erfahre das im Büro und circa 10 Minuten schaffe ich es, nicht zu weinen. Im September gibt es außerdem mit mittelgroßem Knall das Ende einer Freundschaft, die, realistisch betrachtet, nie eine war.
Ich mache das, was sich in Krisen bewährt hat: Ich bastle einen Soundtrack für die Stille nach dem Schluß.















Oktober


Beerdigung zu Hause. In Berlin versuchen, zur Ruhe zu kommen und sich abzulenken. Großartig dafür: Kostümfeste. Begehe Halloween als Bettina Wulff, da ich einen Grund brauche, ein reichlich überflüssiges, schulterfreies Kleid zu kaufen.












November


Mein erster Bundesparteitag der Piraten. In Erinnerung bleibt mir die Hüpfburg, das Interview mit Rainer Langhans (er war Pirat, bevor es die Piraten gab, sagt er), ein langer, langer Tisch mit Presse und meine Fähigkeit, das W-Lan an einem HP zu aktivieren. Ein Google Hang-Out mit Johannes Ponader, ein Wochenende in Bochum. Eine Partei, die ihr W-Lan "Wählt die Piratenpartei" und das Passwort "WirHabenKeineDelegierten!" nennt. Reise nach einem vollen Wochenende ab und lande etwas hart in der Realität in Berlin. Viel Selbstbefragung, viel Nachdenken darüber, was anders werden  muss. Beides hält an.

Dezember
                                            
























Im Dezember hatte ich vor, nach einem halben Jahr Abstinenz Zürich mal wieder einen Besuch abzustatten und vor allem die Leute wiederzusehen, die ich in meiner Schweizer Zeit lieb gewonnen hatte. Das Wetter in Zürich und Air Berlin fanden, der Plan sei nicht so gut und cancelten die Maschine, die mich zu einer Monate lang vorbereiteten Verabredung ins Café Zähringer hätte bringen sollen. Better luck next time! Außerdem brachte der Dezember eine Wochenendreise nach Celle, um die Freundin zu treffen, die in Duisburg lebt und uns beiden einen 6 Stunden-Trip zu ersparen. Das macht uns unheimlich rational, ist die Bestätigung meiner vorzeitigen Alterung und der Beweis, dass wir irgendwann alle so werden wie unsere Eltern. In meinem Fall bedeutet das glücklicherweise, eine Schwäche für Fachwerkhäuser, Weihnachtsmänner auf Segways und Hotels mit langem Frühstück zu haben. Was der Dezember auch brachte, war die Bestätigung, dass meine Freunde das sind, was zwischen mir und dem Weltende steht. Freunde und Yoga. Und Backwaren. In diesem Sinne: Mehr davon 2013, bitte.

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Einheit

Ich sitze vor dem Fernseher, später als ich es normalerweise darf. Meine Eltern stehen im Zimmer, wir schauen auf den Bildschirm und sehen Menschen, die fröhlich durch eine Nacht in einer anderen Stadt tänzeln. Ich verstehe nicht soviel davon, was da passiert. Ich höre immer wieder das Wort "Wahnsinn"

Ein paar Wochen später ziehen wir um, aus der Platte in ein Haus hinter einem See am Wald. Die Schule ist nur einmal über die Straße entfernt. Das Schulhaus hat hohe Fenster und ist alt, keines der Sorte, in die ich vorher ging und dessen Schnitt in allen Städten des Landes gleich ist, so dass man sich, steht man aus welchen Gründen auch immer in einem anderen Exemplar vom Schultyp "Erfurt", sich sofort in diesem Standard-Bildungsplattenbau auskennt.

Es gibt noch einen Fahnenappell ein paar Wochen lang. Einmal in der Woche gehen wir mit einer Uniform in die Schule (Rock, Bluse, Halstuch, Käppi), stehen im Kreis auf dem Schulhof, eine Fahne wird gehisst und ein Erwachsener zählt auf, wer sich bewährt hat und wer sich schlecht verhalten hat, weil er gegen die Pionier-Gebote verstoßen hat.

Nach ein paar Wochen ist die Musiklehrerin verschwunden. Noch ein paar Wochen später die Direktorin. Ich höre das erste Mal das Wort "Staatssicherheit".

Dann gibt es keine Appelle mehr.

Während manche noch auf ihren Telefonanschluß warten, gibt der erste Junge aus der Klasse mit seinem Videorekorder an. Die Eltern arbeiten, lassen uns in Ruhe Kind sein und uns nicht merken, ob und welche Unruhe sie umtreibt. Irgendwann verlieren manche ihre Arbeit. Das Haus, in dem meine Mutter gearbeitet hat, wird abgerissen.

Ich höre das erste Mal das Wort "Treuhand".

Wir werden alle groß und zusammen mit anderen wechsle ich auf ein Gymnasium im Neubaugebiet in der Nähe des Parks, in dem ein Schlößchen steht, mitten unter Dreizehngeschossern.

Im Geschichtsunterricht fragt man uns irgendwann, ob die DDR ein totalitärer Staat war. Fangfrage. Wir antworten das, was wir glauben, dass unser Gegenüber es hören möchte, je nachdem, wer dieses Gegenüber ist. Die Erwartungen unterscheiden sich je nachdem, mit wem man spricht. Später lernen wir, manchmal zu schweigen. Noch später lernen wir, dass das Schweigen uns nicht hilft.

Nach einigen Jahren gehe ich nach Berlin, aber ich erhalte auch eine Zusage aus Dortmund. Ich treffe und freunde mich mit Menschen aus Schleswig-Holstein, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg an. Ich bereise Europa und die USA und bin mit 25 weiter weg von zu Hause gewesen als meine Eltern mit 40.

Mein Weg liegt vor mir und er liegt in meiner Hand. Nicht in der meiner Herkunft.

Dafür bin ich am 3. Oktober dankbar.





Sonntag, 30. September 2012

Klassentreffen

"Du kamst zu uns in die Klasse ein paar Monate, nachdem die Schule begonnen hatte. Und du hast ein halbes Jahr alle verprügelt."

Ich habe es, wenn überhaupt, anders herum in Erinnerung.

Zehn Jahre Abitur, achtzehn Jahre Grundschule. Ein Treffen u.a. mit den Menschen, die mich nach meinen Eltern am längsten kennen. Oder mit denen ich bekannt bin. Und wir erzählen uns Versionen der Vergangenheit und suchen nach Schnittmengen. Die Lehrer. Die Reisen. Die Blamagen. Nicht unsere eigenen, sondern die von denen, bei denen wir uns darauf einigen können, dass sie anders waren und es ok ist, darüber zu grinsen: "Dass er Hosenträger trug, war das eine, aber das mit der Wurst, die er jeden Mittag aß, war echt widerlich."

Und niemand sagt, wie es ihm wirklich ging. Kaum jemand, wie es ihm geht.

Wir fragen nicht: "Bist du glücklich?", wir fragen "Wo arbeitest du?", "Hast du einen Freund?", "Hast du ein Kind?", "Wo wohnst du?"

Als wären da ein Mechanismus, der diese Dinge koppelt, das Glück und die Art, wie und mit wem man sich durch die Zeit bewegt.

Wir haben das Meiste der Zeit, die wir jemals miteinander verbringen werden, schon hinter uns an diesem Abend. Und es ist ein Versuch, in dieser Zeit zu lesen und uns daraus Erzählungen zu stricken, die das, was wir heute sind oder als das wir gelesen werden, folgerichtig machen.

"War ja klar" sagt M. als ich ihr auf ihre Frage, was ich so mache, sage, dass ich Journalistin bin.

Ach so?

"Ja, du warst ja immer gut in Deutsch."

Stimmt. Und gut in Geschichte und Englisch. Mir war gar nicht klar, was ich werde damals als ich M. das letzte Mal sah. Und ziemlich oft denke ich, so richtig weiß ich das noch immer nicht. Und meistens ist das sehr ok, denn ich mache das, was erfreut und seine Frau nährt.

Aber ob ich schon bin, was ich mal werde, das weiß ich nicht.

Ich bin recht sicher, ich möchte, dass es nicht so ist.


Donnerstag, 27. September 2012

Einschlag

Ich habe von ihr die Nase, die Vorliebe für Schnapspralinen geerbt und einem Hang, die Oberfläche mit Make-Up zu polieren, egal wie´s drunter aussieht.

Mittwoch ist sie gestorben. Es auszusprechen und aufzuschreiben macht es realer. Und trotzdem bleibt der Unglaube. Wenn eine geht, die da war, solange man sich erinnern kann.

Ein Gedanke vorhin: An den Beziehungen, die wir knüpfen und in die wir geboren werden sollte ein Zettel hängen mit einer Zahl: "Ich werde dich soundosviel Prozent deines Herzens kosten wenn ich gehe"

Als ob es verhindern würde, dass man diesen Handel eingeht.

Vorerst Durchhalten. Blick heben.


Sonntag, 9. September 2012

Filter Bubble Tea

Wie unvoreingenommen können wir Begegnungen im Internet erleben? Ich frage für eine Erfahrung von heute morgen. Meine Freundin Kathrin bloggt als portraitzentrale.de über Menschen, die ihr im Netz über den den Weg laufen und die sie interessant findet. Ich hatte das Vergnügen, zu dieser Gruppe zu gehören. Das Prinzip Portraitzentrale geht so: Kathrin besucht dich, fragt dich Sachen, guckt sich an, wie du wohnst oder arbeitest, fasst ihre Eindrücke und Zitate von dir in einem Portrait zusammen und bloggt es. Wer zuletzt portraitiert wurde, gibt Kathrin im Gespräch einen Tipp, wen sie als nächstes anschauen sollte.

Diese Idee hat bisher Portraits einer illustren Runde aus Bloggern und sonstwie mit dem Netz verbandelten Menschen hervorgebracht: Paul Fritze, Don Dahlmann, Heiko Hebig, Jan-Uwe Fitz und andere.

Ich mag die Idee, weil ich Menschen hinter ihren Avataren kennenlerne, weil ich Kathrins Blick für Details mag und den Fakt, dass ich auch sie als Autorin immer klar erkennen kann. Und hey- wer sonst würde sich in meine mit Affendevotionalien vollgestellte Küche setzen, um mit mir über CSU-Politiker auf Twitter zu sprechen?

Vielleicht bin ich also voreingenommen, aber das, was heute nach Kathrins letzten Posting auf dem Blog auf Twitter losging, erstaunte mich.

Kathrin hatte, nach einer Bemerkung ihres zuletzt Portraitierten, dem deutschen Internet fehle eine starke konservative Publikationsfigur, den bei Springer für "Public Affairs" und damit zu Recht als Cheflobbyisten bezeichenbaren Christoph Keese für ein Portrait ausgewählt.

Christoph Keese tritt im Rahmen seiner Tätigkeit als Fürsprecher und Treiber des Leistungsschutzrechts auf. Das Leistungsschutzrecht nervt - meiner Meinung nach zu Recht - viele, die an einem möglichst unkomplizierten Informationsfluß im Netz interessiert sind.

Das #LSR in Kürze, im Fall einer der drei Leser hier hat die letzten zehn Jahre in einem Erdloch in China verbracht: Aus der Sicht der Verlage ist das Verweisen auf ihre Inhalte Abzocke, schließlich hat die Suchmaschine oder die Website, die einen Link zu einem Verlagsprodukt setzt, dieses Produkt nicht bezahlt. Deswegen verlangen sie die Etablierung eines Leistungsschutzrechts, das diejenigen, die auf ihre Inhalte hinweisen, dazu verpflichtet, dafür zu bezahlen. Aus Sicht der Gegner dieser Haltung kann in der gleichen Logik eine Stadt Geld dafür verlangen, dass es Wegweiser zu ihr gibt. Sehr schön zusammengefasst, hat das, was am Leistungsschutzrecht so falsch ist, Kai Biermann für ZEIT ONLINE (meinen aktuellen Arbeitgeber).

Man muss vom Leistungsschutzrecht nichts halten, die Frage ist, ob der Fakt, dass es vielen Bloggern und Netzpublizierenden missfällt, dazu genügt, ein Portrait Christoph Keeses auf einem Blog, per se und ganz und gar abzulehnen, wie dies am Morgen der Veröffentlichung auf Twitter abzulesen war.




Die Vehemenz mit der Jens hier streitet, hat mich erstaunt. Ich habe nicht vor, mich inhaltlich seinen Aussagen zu widmen. Dazu weiß ich schlicht zu wenig über die Gemengelage der Leistungsschutzbefürworter und -gegner und den Payrolls, auf denen sie in Wahrheit oder vermeintlich stehen. Dass Keese offen für das #LSR kämpft, ist bekannt und auch, dass er es im Auftrag des Springer-Verlags macht.

Was man an Jens beobachten kann, ist meiner Meinung nach das Zerplatzen seiner Filter Bubble. Kathrins Blog läuft in seinen RSS-Reader. Er schenkt ihr die wertvollste Währung des Netzes (are you listening, #LSR-Befürworter?): Eyeballs. Aufmerksamkeit. Die Portraitzentrale gehört zu dem Inhaltemix, den er sich aus Millionen von Angeboten zusammenstellt. Und dann taucht da die Person auf, die da- aus seiner Sicht - nichts zu suchen hat, weil sie von der "anderen" Seite ist. Die Seite, die alles dafür tut, um das Privileg, mit Inhalten Geld zu verdienen, direkt an Verlage zu binden. Die Seite, die dafür sorgt, dass Blogger darüber nachdenken müssen, ob Verlinken überhaupt noch rechtens ist. Obwohl erst Links das Netz zu einem Netz machen und nicht zu einer Ansammlung von ...tja...Wollknoten, die ins Nichts führen.

Ich verstehe Jens´ Wut weil sie das bestätigt, was ich als Confirmatin Bias im Forbes-Blog von Deanna Zandt gelesen habe. Zu übersetzen ist das mit Selektiver Wahrnehmung: Jede Information, die wir - auch im Netz- aufnehmen, dient im Grunde dazu, bereits bestehende Meinungen zu stützen:

"If I see evidence that supports what I already believe, I will support that evidence. If the evidence is neutral, I will interpret it in a way that supports what I believe. And, if the evidence completely contradicts what I believe, I will discount the evidence, dig my heels in deeper and keep believing what I want."

Bei aller Ablehnung der Haltung Christoph Keeses qua Amt steht im Portrait selbst nämlich ein Punkt, der das Vorurteil des am Netz desinteressierten Verlagsapparatschiks zumindest teilweise in ein anderes Licht rückt (so es denn stimmt): 

„Der schleichende Moment war, als mir eines Morgens auffiel, dass ich mehr (amerikanische) Blogs lese, als ich klassische Presse lese. Was mich persönlich interessiert – Physik, Wissenschaft, Geschichte, Lyrik, Publizistik – wird in der Blogosphäre besser abgebildet. An dem Tag habe ich gesehen, dass das kein Zufall ist, sondern systembedingt.“

Hey, der Typ liest Blogs. Der hat realisiert, dass sich an der Art, wie Menschen publizieren und Informationen konsumieren was geändert hat, dass Verlage längst nicht mehr die Platzhirsche sind. Oder nicht? Dann fordern wir ihn doch heraus, fragen ihn, was das für Blogs sind und wie das zusammengeht: Auf Biegen und Brechen alte Wege, Geld zu verdienen, stützen zu wollen, ohne anzuerkennen, dass das Netz - und die Blogs- schnelles, unkompliziertes Verlinken notwendig machen - auch wenn Gottverdammtnochmal ein paar Google Ads auf der Seite, die es betrifft, geschaltet sind. 

Das könnte man Keese fragen. Oder man übt sich in verbalen Ohrfeigen.

Es ist so, dass ich die Vorbehalte gegen den Verlag, die aus seiner publizistischen Historie stammen, nachvollziehen kann (mal abgesehen von der Anti-LSR-Haltung, die ich teile). Ich lese derzeit die sehr detaillierte Ulrike Meinhof-Biographie von Jutta Ditfurth. Die Art, wie der Springer-Verlag die APO und die Studentenbewegung der späten Sechsziger gerade in Westberlin dämonisierte und darstellte, hat nichts mit der Art von Presse zu tun, wie sie konstituierend für eine Demokratie wirkt. Die Art, wie Springer publiziert, unterstütze ich nicht. 

Aber die Frage ist, wie wir miteinander umgehen, solange wir uns ein Internet teilen. Ignorieren? Beschimpfen?

Deanna Zandt bloggt, dass ein Weg, tiefe Gräben zu überwinden, darin besteht, Geschichten zu erzählen und von den Emotionen zu berichten, die diese Geschichten leiten und begleiten. Sie führt als Beispiel die US-Debatte über die Ehe für Homosexuelle an, in der, bewegt von den persönlichen Geschichten der Befürworter, auch einige der Gegner den Punkt der Gegenseite sehen konnten.  

"The magic that happens when we share stories with one another comes from our human wiring to empathize with one another. To walk in each others’ shoes and have our capacity for understanding broadened just a little bit. The unfortunate nature of political systems don’t necessarily promote authentic, empathetic sharing, but we can recognize it and celebrate it when we see it."

Womit sie eine Chance und zugleich eine Grenze der Befriedung unserer Netzsphären aufzeigt: Je tiefer die politischen Gräben, umso schwieriger die Handreichung über den Zaun.

Das Portrait von Christoph Keese, der uns die Geschichte erzählt, dass er selbst Blogs liest und Gottverdammtnochmal auch schreibt (und das wohl kaum, ohne irgendwann mal zu Googlen  und hey - dafür nichts an die Verlinkten zu zahlen), böte Anlass, sich damit auseinanderzusetzen.

Aber offenbar ist die Frage um das #LSR eine, die tiefe politische Überzeugungen berührt- so tief, dass das Teilen von Geschichten obsolet wird.