Mittwoch, 30. Januar 2013

Warum #Aufschrei richtig ist

Dann ist es eben eine Kampagne. Ein narrativer Schachzug im Drama, das die FDP-Führung seit Monaten spielt, eine Art Retourkutsche auf den Versuch, Rösler aus dem Amt zu drängen, bevor irgendwelche Wahlergebnisse diesen Schritt plausibel machen könnten. Die Schilderung eines Spitzenpolitikers, der Bemerkungen über den Busen einer Journalistin für angebracht hält und das nächtliche Klopfen an Hotelzimmertüren.

Aber wozu die Debatte um Brüderle geführt hat - selbst wenn ihr Ursprung Kampagnencharakter hat - ist eine öffentliche Demonstration und Dokumentation von Alltagssexismus, die wichtig und gut ist. Weil sie denen, die es betrifft, Mut macht, auszusprechen, was sie belastet und uns zeigt, wie antiquiert und unfrei unser Land ist.

#Aufschrei, das war und ist: Frauen, die davon berichten, wie sie in der Bahn belästigt werden. Mit Anmachen. Mit Beleidigungen, wenn sie nicht so reagieren, wie es sich der Typ vorstellt. Frauen, die davon berichten, wie Vorgesetzte sie dafür loben, gut auszusehen, weil das ja dem Kunden beim nächsten Treffen gefallen könnte - als wären der Beruf eine Art Schönheitswettbewerb und intellektuelle Leistung unwichtig. Frauen, die davon berichten, wie eben diese Kunden noch anrufen, und sich Abendessen mit ihnen ausbedingen, als Bedingung für eine Auftragsvergabe. Frauen, die vom täglichen Trieb über den Viehmarkt berichten. Sind diese Berichte weniger Wert, weil das, was sie auslöste, auch als Mechanismus politischer Berichterstattung gelesen werden kann? Mit der Betonung auf "auch", denn daneben war Brüderles Handeln allemal.

Es ist eben nicht okay, Frauen wie williges Fleisch zu behandeln, das nur darauf wartet, taxiert und libidinöser Verwertung zugeführt zu werden. Es gibt keinen Freibrief und keine Entschuldigung dafür, das Leben mit einem niemals endenden Date zu verwechseln und den Job als eine Art Ehe-Anbahnungsinstitut bzw. müssen die, die das tun, zur Kenntnis nehmen, dass niemand verdient, ihre Sicht der Dinge aufgezwungen zu bekommen.

Beim #Aufschrei geht es auch nicht ums Flirten, weil Flirten heißt, dass zwei sich einig sind - oder zumindest willens, einig zu werden. Der #Aufschrei dokumentiert eben genau das Versagen dessen, was Flirten zum Funktionieren bringt, nämlich das Lesen der Signale des Gegenübers - und das Respektieren von Grenzen. Der Versuch, die Debatte um eine der "richtigen" und "falschen" Flirt-Handlungen zu machen, trivialisiert all das, wofür #Aufschrei steht - eine Dokumentation der alltäglichen Übergriffe, die weit mehr betreffen als ein missglücktes Kompliment an der Club-Bar. Kia Vahland hat es im imho bisher smartesten Text etablierter Medien über die angestoßene Debatte auf den Punkt gebracht: Bei #Aufschrei geht es um den Missbrauch von Macht. Der ist anzuprangern, egal was der Auslöser ist.

Das einzige, was mich am #Aufschrei skeptisch macht, ist der Überschwang, mit der er zum Ausdruck einer neuen Bewegung ausgerufen wird. Aktivismus in Social Media, das ist der Aktivismus derer, die die Privilegien haben, daran teilzunehmen. Sie sind gebildet, sie haben Netzzugang, sie haben die Zeit, sich zu äußern. Viele andere haben das nicht und viele andere gesellschaftliche Anliegen bleiben so unsichtbar. Macht das aber die Aktionen, die auf Twitter sichtbar sind, weniger wichtig? Eher nicht. Solange unser Bewusstsein dafür, dass nicht alles, was soziale Realität und Missstand ist, nur auf Twitter ablesbar ist, scharf bleibt, solange kann #Aufschrei und denen, die ihn ernst nehmen, nicht der Vorwurf der Bigotterie gemacht werden.