Sonntag, 30. September 2012

Klassentreffen

"Du kamst zu uns in die Klasse ein paar Monate, nachdem die Schule begonnen hatte. Und du hast ein halbes Jahr alle verprügelt."

Ich habe es, wenn überhaupt, anders herum in Erinnerung.

Zehn Jahre Abitur, achtzehn Jahre Grundschule. Ein Treffen u.a. mit den Menschen, die mich nach meinen Eltern am längsten kennen. Oder mit denen ich bekannt bin. Und wir erzählen uns Versionen der Vergangenheit und suchen nach Schnittmengen. Die Lehrer. Die Reisen. Die Blamagen. Nicht unsere eigenen, sondern die von denen, bei denen wir uns darauf einigen können, dass sie anders waren und es ok ist, darüber zu grinsen: "Dass er Hosenträger trug, war das eine, aber das mit der Wurst, die er jeden Mittag aß, war echt widerlich."

Und niemand sagt, wie es ihm wirklich ging. Kaum jemand, wie es ihm geht.

Wir fragen nicht: "Bist du glücklich?", wir fragen "Wo arbeitest du?", "Hast du einen Freund?", "Hast du ein Kind?", "Wo wohnst du?"

Als wären da ein Mechanismus, der diese Dinge koppelt, das Glück und die Art, wie und mit wem man sich durch die Zeit bewegt.

Wir haben das Meiste der Zeit, die wir jemals miteinander verbringen werden, schon hinter uns an diesem Abend. Und es ist ein Versuch, in dieser Zeit zu lesen und uns daraus Erzählungen zu stricken, die das, was wir heute sind oder als das wir gelesen werden, folgerichtig machen.

"War ja klar" sagt M. als ich ihr auf ihre Frage, was ich so mache, sage, dass ich Journalistin bin.

Ach so?

"Ja, du warst ja immer gut in Deutsch."

Stimmt. Und gut in Geschichte und Englisch. Mir war gar nicht klar, was ich werde damals als ich M. das letzte Mal sah. Und ziemlich oft denke ich, so richtig weiß ich das noch immer nicht. Und meistens ist das sehr ok, denn ich mache das, was erfreut und seine Frau nährt.

Aber ob ich schon bin, was ich mal werde, das weiß ich nicht.

Ich bin recht sicher, ich möchte, dass es nicht so ist.


Donnerstag, 27. September 2012

Einschlag

Ich habe von ihr die Nase, die Vorliebe für Schnapspralinen geerbt und einem Hang, die Oberfläche mit Make-Up zu polieren, egal wie´s drunter aussieht.

Mittwoch ist sie gestorben. Es auszusprechen und aufzuschreiben macht es realer. Und trotzdem bleibt der Unglaube. Wenn eine geht, die da war, solange man sich erinnern kann.

Ein Gedanke vorhin: An den Beziehungen, die wir knüpfen und in die wir geboren werden sollte ein Zettel hängen mit einer Zahl: "Ich werde dich soundosviel Prozent deines Herzens kosten wenn ich gehe"

Als ob es verhindern würde, dass man diesen Handel eingeht.

Vorerst Durchhalten. Blick heben.


Sonntag, 9. September 2012

Filter Bubble Tea

Wie unvoreingenommen können wir Begegnungen im Internet erleben? Ich frage für eine Erfahrung von heute morgen. Meine Freundin Kathrin bloggt als portraitzentrale.de über Menschen, die ihr im Netz über den den Weg laufen und die sie interessant findet. Ich hatte das Vergnügen, zu dieser Gruppe zu gehören. Das Prinzip Portraitzentrale geht so: Kathrin besucht dich, fragt dich Sachen, guckt sich an, wie du wohnst oder arbeitest, fasst ihre Eindrücke und Zitate von dir in einem Portrait zusammen und bloggt es. Wer zuletzt portraitiert wurde, gibt Kathrin im Gespräch einen Tipp, wen sie als nächstes anschauen sollte.

Diese Idee hat bisher Portraits einer illustren Runde aus Bloggern und sonstwie mit dem Netz verbandelten Menschen hervorgebracht: Paul Fritze, Don Dahlmann, Heiko Hebig, Jan-Uwe Fitz und andere.

Ich mag die Idee, weil ich Menschen hinter ihren Avataren kennenlerne, weil ich Kathrins Blick für Details mag und den Fakt, dass ich auch sie als Autorin immer klar erkennen kann. Und hey- wer sonst würde sich in meine mit Affendevotionalien vollgestellte Küche setzen, um mit mir über CSU-Politiker auf Twitter zu sprechen?

Vielleicht bin ich also voreingenommen, aber das, was heute nach Kathrins letzten Posting auf dem Blog auf Twitter losging, erstaunte mich.

Kathrin hatte, nach einer Bemerkung ihres zuletzt Portraitierten, dem deutschen Internet fehle eine starke konservative Publikationsfigur, den bei Springer für "Public Affairs" und damit zu Recht als Cheflobbyisten bezeichenbaren Christoph Keese für ein Portrait ausgewählt.

Christoph Keese tritt im Rahmen seiner Tätigkeit als Fürsprecher und Treiber des Leistungsschutzrechts auf. Das Leistungsschutzrecht nervt - meiner Meinung nach zu Recht - viele, die an einem möglichst unkomplizierten Informationsfluß im Netz interessiert sind.

Das #LSR in Kürze, im Fall einer der drei Leser hier hat die letzten zehn Jahre in einem Erdloch in China verbracht: Aus der Sicht der Verlage ist das Verweisen auf ihre Inhalte Abzocke, schließlich hat die Suchmaschine oder die Website, die einen Link zu einem Verlagsprodukt setzt, dieses Produkt nicht bezahlt. Deswegen verlangen sie die Etablierung eines Leistungsschutzrechts, das diejenigen, die auf ihre Inhalte hinweisen, dazu verpflichtet, dafür zu bezahlen. Aus Sicht der Gegner dieser Haltung kann in der gleichen Logik eine Stadt Geld dafür verlangen, dass es Wegweiser zu ihr gibt. Sehr schön zusammengefasst, hat das, was am Leistungsschutzrecht so falsch ist, Kai Biermann für ZEIT ONLINE (meinen aktuellen Arbeitgeber).

Man muss vom Leistungsschutzrecht nichts halten, die Frage ist, ob der Fakt, dass es vielen Bloggern und Netzpublizierenden missfällt, dazu genügt, ein Portrait Christoph Keeses auf einem Blog, per se und ganz und gar abzulehnen, wie dies am Morgen der Veröffentlichung auf Twitter abzulesen war.




Die Vehemenz mit der Jens hier streitet, hat mich erstaunt. Ich habe nicht vor, mich inhaltlich seinen Aussagen zu widmen. Dazu weiß ich schlicht zu wenig über die Gemengelage der Leistungsschutzbefürworter und -gegner und den Payrolls, auf denen sie in Wahrheit oder vermeintlich stehen. Dass Keese offen für das #LSR kämpft, ist bekannt und auch, dass er es im Auftrag des Springer-Verlags macht.

Was man an Jens beobachten kann, ist meiner Meinung nach das Zerplatzen seiner Filter Bubble. Kathrins Blog läuft in seinen RSS-Reader. Er schenkt ihr die wertvollste Währung des Netzes (are you listening, #LSR-Befürworter?): Eyeballs. Aufmerksamkeit. Die Portraitzentrale gehört zu dem Inhaltemix, den er sich aus Millionen von Angeboten zusammenstellt. Und dann taucht da die Person auf, die da- aus seiner Sicht - nichts zu suchen hat, weil sie von der "anderen" Seite ist. Die Seite, die alles dafür tut, um das Privileg, mit Inhalten Geld zu verdienen, direkt an Verlage zu binden. Die Seite, die dafür sorgt, dass Blogger darüber nachdenken müssen, ob Verlinken überhaupt noch rechtens ist. Obwohl erst Links das Netz zu einem Netz machen und nicht zu einer Ansammlung von ...tja...Wollknoten, die ins Nichts führen.

Ich verstehe Jens´ Wut weil sie das bestätigt, was ich als Confirmatin Bias im Forbes-Blog von Deanna Zandt gelesen habe. Zu übersetzen ist das mit Selektiver Wahrnehmung: Jede Information, die wir - auch im Netz- aufnehmen, dient im Grunde dazu, bereits bestehende Meinungen zu stützen:

"If I see evidence that supports what I already believe, I will support that evidence. If the evidence is neutral, I will interpret it in a way that supports what I believe. And, if the evidence completely contradicts what I believe, I will discount the evidence, dig my heels in deeper and keep believing what I want."

Bei aller Ablehnung der Haltung Christoph Keeses qua Amt steht im Portrait selbst nämlich ein Punkt, der das Vorurteil des am Netz desinteressierten Verlagsapparatschiks zumindest teilweise in ein anderes Licht rückt (so es denn stimmt): 

„Der schleichende Moment war, als mir eines Morgens auffiel, dass ich mehr (amerikanische) Blogs lese, als ich klassische Presse lese. Was mich persönlich interessiert – Physik, Wissenschaft, Geschichte, Lyrik, Publizistik – wird in der Blogosphäre besser abgebildet. An dem Tag habe ich gesehen, dass das kein Zufall ist, sondern systembedingt.“

Hey, der Typ liest Blogs. Der hat realisiert, dass sich an der Art, wie Menschen publizieren und Informationen konsumieren was geändert hat, dass Verlage längst nicht mehr die Platzhirsche sind. Oder nicht? Dann fordern wir ihn doch heraus, fragen ihn, was das für Blogs sind und wie das zusammengeht: Auf Biegen und Brechen alte Wege, Geld zu verdienen, stützen zu wollen, ohne anzuerkennen, dass das Netz - und die Blogs- schnelles, unkompliziertes Verlinken notwendig machen - auch wenn Gottverdammtnochmal ein paar Google Ads auf der Seite, die es betrifft, geschaltet sind. 

Das könnte man Keese fragen. Oder man übt sich in verbalen Ohrfeigen.

Es ist so, dass ich die Vorbehalte gegen den Verlag, die aus seiner publizistischen Historie stammen, nachvollziehen kann (mal abgesehen von der Anti-LSR-Haltung, die ich teile). Ich lese derzeit die sehr detaillierte Ulrike Meinhof-Biographie von Jutta Ditfurth. Die Art, wie der Springer-Verlag die APO und die Studentenbewegung der späten Sechsziger gerade in Westberlin dämonisierte und darstellte, hat nichts mit der Art von Presse zu tun, wie sie konstituierend für eine Demokratie wirkt. Die Art, wie Springer publiziert, unterstütze ich nicht. 

Aber die Frage ist, wie wir miteinander umgehen, solange wir uns ein Internet teilen. Ignorieren? Beschimpfen?

Deanna Zandt bloggt, dass ein Weg, tiefe Gräben zu überwinden, darin besteht, Geschichten zu erzählen und von den Emotionen zu berichten, die diese Geschichten leiten und begleiten. Sie führt als Beispiel die US-Debatte über die Ehe für Homosexuelle an, in der, bewegt von den persönlichen Geschichten der Befürworter, auch einige der Gegner den Punkt der Gegenseite sehen konnten.  

"The magic that happens when we share stories with one another comes from our human wiring to empathize with one another. To walk in each others’ shoes and have our capacity for understanding broadened just a little bit. The unfortunate nature of political systems don’t necessarily promote authentic, empathetic sharing, but we can recognize it and celebrate it when we see it."

Womit sie eine Chance und zugleich eine Grenze der Befriedung unserer Netzsphären aufzeigt: Je tiefer die politischen Gräben, umso schwieriger die Handreichung über den Zaun.

Das Portrait von Christoph Keese, der uns die Geschichte erzählt, dass er selbst Blogs liest und Gottverdammtnochmal auch schreibt (und das wohl kaum, ohne irgendwann mal zu Googlen  und hey - dafür nichts an die Verlinkten zu zahlen), böte Anlass, sich damit auseinanderzusetzen.

Aber offenbar ist die Frage um das #LSR eine, die tiefe politische Überzeugungen berührt- so tief, dass das Teilen von Geschichten obsolet wird.