Sonntag, 15. Mai 2011

Emulating Geri Weibel

Nichts erweist sich für einen Deutschen neu in Zürich praktischer als Schmerzfreiheit kommunikative Missverständnisse und eventuell schamesrotinduzierender Situationen betreffend, geschult in jahrelangen Großstadtaufenthalten. So kann ich die Bestrebungen des sehr sympathischen Abendeinladenden Paares, die Fensterteile ihrer Flurtür, ein schönes Jugendstilmotiv, mit Sichtfolie abzukleben um den Blick auf frisch gesäuberte, aber eventuell nackte Körper beim Durchqueren der Wohnung zu verwehren, nicht so recht nachvollziehen. Wo ich herkomme, herrscht das Motto: Wer guckt, ist selber Schuld. Man trägt die Verantwortung für das, was man sieht. Saures Aufstoßen, weil der Typ neben dir im U-Bahnhof seine nässende Beinwunde mit einer Blumenampel dekoriert bevor er die BSR- Eimer um Pfandflaschen erleichtert und beherzt in den Müll greift? Warum hast du hingeschaut!? Schamlosigkeit siegt. Vom Überwinden der Fremdscham zum Vergessen der Eigenen ist es nicht weit, im Zweifel hilft ein gesunder Pragmatismus. Ist es ein bisschen peinlich, wenn du in der ersten Woche in deiner neuen WG nur in Unterwäsche den Kaffee kochend von der Freundin des neuen Mitbewohners in ein Kennenlern-Gespräch verwickelt wirst oder die Schwester der neuen Mitbewohnerin auf einen kurzen Schwatz reinkommt weil die herzerfrischende Schweizer Angewohnheit, Wohnungstüren nicht abzuschließen wenn man zu Hause ist, trotz Klinke außen, herrscht? Entscheidend ist doch nur, nicht eine Baumwollruine zu tragen. Oder wenn, dann mit Stolz.

Ist es ein bisschen peinlich wenn man auf einem Apéro (after work-Stehumtrunk) sagt:
"Ich kann sicherlich noch viel lernen. Also, ihr müsst mich noch einführen." und eine Antwort kriegt, verdruckst, die darin gipfelt, dass das Gegenüber flankiert von eindeutiger Geste sagt: "Bei uns heisst jemanden einzuführen, jemanden einen Einlauf zu geben."? Wohl kaum peinlicher als auf ein freundliches "Gruezi" mit einem beherzten "Nachtie" zu antworten.
Mein erklärtes Ziel ist es, solange unbeschämt zu sein, bis alle anderen auch unbeschämt sind. Pionierin der Schmerzfreiheit in allen europäischen Währungsgebieten, so wird man mich nennen.


Samstag, 7. Mai 2011

The pursuit of Züriness

Dass ich nun wirklich nicht mehr in Berlin bin sondern in Zürich, dass habe ich vorhin festgestellt: Ein Paar geht am Ufer eines Flusses spazieren, der, bis auf seine verdächtige Klarheit und Fließgeschwindigkeit in der Form auch nicht zwingend nicht durch märkischen Sand fließen könnte. Ich lasse sie vorbei, weil mich das Hecheln ihres asthmatischen Foxterriers im Nacken irritiert. Der Mann bedankt sich, seine Frau lutscht ungeührt an einem Kirschlolli.

Ungefähr 20 Meter weiter den Fluß hinab, an einer graffitibunten Unterführung, höre ich vor mir ein Jauchzen. Das Gesicht zum Geräusch ist ein vielleicht 11jähriges Mädchen. Ihr Entzückenslaut galt nachvollziehbarerweise dem kleinen Hund und sie fragt höflich, ob sie ihn streicheln dürfe. Sein Besitzer darauf: „Aber natürlich. Flocki ist sein Name.“. Darauf das Mädchen: „Ach, wie herzig.“. Dann bedankt sie sich und geht weiter.

In Berlin hätte sich die Situation wie folgt abgespielt: Die Unterführung hätte ungefähr gleich ausgesehen, wenn auch der Weg dahin zugemüllt. Das Mädchen hätte auch gejauchzt, vielleicht sogar noch gefragt, ob sie mal den Hund anfassen dürfe. Dann aber wäre folgendes passiert: a) der Hund hätte ihr Gesicht gefressen und sich somit über den Klassiker „Hausaufgaben als Mageninhalt“ hinausentwickelt, b) der Besitzer hätte gesagt „Dit lässte mal schön bleiben, Frolleinchen.“ c) (am wahrscheinlichsten) alle Anwesenden wären von einem riesigen Wahlkampftraktor in Form eines Damenschuhs, gefahren von Klaus Wowereit, niedergemäht worden. Ich übertreibe vielleicht ein bisschen. Es wäre eventuell nur ein Quadbike gewesen, das olle Klaus gefahren hätte.

Mein Einstieg, in puncto "Szenisch gelungen" vom Voldermort deutschsprachiger Aufschreiber namens Wolf Schneider wahrscheinlich zum Hinternabwischen benutzt, wobei er´s ja dafür erst mal hätte ausdrücken müssen, dieses Internet, ist eine Anekdote zum Erkennen dessen, was mir im Vorfeld meines Umzugs als unheimliche Dichotomie Zürich-Berlin angekündigt wurde, die es gemäß einem meiner legendären Schnellurteile nach knapp einer Woche in meiner Erfahrung gibt, aber auch nicht gibt. Die es manchmal nur gibt als Koketterie, als Spiel mit dem Ultimativziel des Distinktionsgewinns.

Das Spiel geht in beide Richtungen: So beschreiben in meinen ersten Tagen hier meine neuen Kollegen immer wieder gewisse Unterschiede und Eigenheiten, auf die es zu achten gelte. Ich solle auch nicht versuchen, Schwizerdütsch zu sprechen. Ich höre letzteren Hinweis so häufig, dass mir klar wird: Diese Menschen müssen gelitten haben. Jahrelange, tausendfache Mimikry-Schweizer in Einzelhandelsschlangen, beim Tanken, auf dem Amt, am Kaffeeautomaten in der Cafeteria! Ich bin über den Hinweis auch halbwegs überrascht, weil es mir bis dato gar nicht in den Sinn gekommen war, das mit dem Schwizerdütsch auch nur zu versuchen. Andererseits kann ich beim Nachdenken über den Fall andersherum: Ich träfe auf einen Ausländer in Deutschland und er versuchte nach ein paar Tagen Deutsch mit mir zu sprechen- keine entsprechende Abwehrreaktion feststellen. Es wäre mir schlichtweg egal, was wir sprächen, solange wir uns verständen. So halbwegs. Mit Händen und Füßen.

Ich denke weiter nach über die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten und die gegenseitigen Abgrenzungsäußerungen. Merke, dass für mich klar war, solange ich Bahnhof, Post, Kreisamt, Arbeitsbeginn verstehe, bin ich auf vertrautem Terrain. Merke, wie selbstverständlich ich das Verstehen der Sprache als funktionierende Basis eines Umzugs in dem für meine Verhältnisse gerade richtigen Anteil von Exotismus gewürzten neuen Ort meiner Eskapaden um Eiscreme und andere Lebensnotwendigkeiten gesehen habe. Wage die Vermutung, das Thematisieren der Eigenheiten ist die größte Eigenheit der Schweizer.

Stelle fest, dass es das gibt, was immer wieder als „unglaubliche Lebensqualität“ in der Schweiz beschrieben wurde: Höflichkeit, Dezenz, eine Stadt ohne Müll, Scherben, Hundehaufen in den Parks. Eine Stadt, die sich noch fremd anhört, ein bißchen wie Dialoge in Lise Gast-Büchern. Was nicht schlimm ist, die Welt muss nicht immer Jörg Fauser sein.


Stelle aber auch fest, bleibe dabei, dass es Universelles gibt, was nicht Weniger ist als das Streben nach Glück. Dass dies in Parametern läuft, die kulturell oder von Linien auf einer Karte abhängig sind: Geschenkt.

Das Erstehen eines 70er Jahre Occasionsvelos des Zürichers ist gleich die Markierung eines gottverdammten Fahrradwegs in Mexiko, einem der Länder mit der höchsten Wahrscheinlichkeit auf dem Rad überfahren zu werden, wobei dort Fortbewegungsmittel und Einkommen korrellieren und ein Rad sich nicht über die Schmalheit seine Reifen oder seinen "Vintage"-Appeal profiliert sondern seine schiere Existenz. Glück hat unterschiedliche Farben, Geschmäcker, Formen. Alle suchen´s. Alle treten sich beim Suchen danach dann und wann auf die Füße. Und alle wollen glauben, sie seien dabei einzigartig.

Dabei weiss jeder, dass das Glück nur in einem roten Damenpump, getragen von einem Hund namens Flocki daher kommt. Der in Esperanto bellt.

P.S. Unterschied:

Überflüssig zu sagen, wie ich die ersten Tage unterm Wasserhahn hing weil ich die Funktionalität der Duschumschalte nicht kapierte: Die Wasserhähne haben hier eine Vorhaut.