Sonntag, 12. August 2012

Landmarken

Vor zehn Jahren habe ich Abitur gemacht und zog nach Berlin, um Publizistik zu studieren. Ich kannte in der vier Millionen Stadt genau niemanden. Ich wohnte in einer Hochparterre-Wohnung mit Ofenheizung am Bahnhof Lichtenberg. Zur Uni waren es anderthalb Stunden - ein Weg. Wenn ich abends nach Hause kam, war die Wohnung kalt. Ab und zu schlief ich in meinem Wintermantel, weil der Ofen es nicht rechtzeitig geschafft hatte, die Wohnung wieder zu heizen. Irgendwann klopften nachts drei glatzköpfige junge Männer an mein Fenster, die mich nach "Rodney" fragten. Kurze Zeit später zog ich nach Friedrichshain, in eine Wohnung, die ich mir beim aktuellen Mietspiegel in meinem Viertel nicht mehr leisten könnte.

An der Uni bestand mein Ankommen darin, die ersten sechs Wochen mit niemanden außer den Frauen an der Essensausgabe der Mensa zu reden. Ich verlief mich in dem Wirrwarr aus Gebäuden und Instituts-Standorten und verbrachte meine Pausen damit, von Lankwitz nach Dahlem zu fahren und zurück.

Meine Einführungsvorlesung in Publizistik war davon geprägt, dass den restlichen 300 Anwesenden und mir von zwei Vertretern des akademischen Mittelbaus mitgeteilt wurde, wir seien mit großer Wahrscheinlichkeit nicht smart oder willens genug, dieses Studium durchzustehen und sollten unsere Studienplätze doch direkt freigeben. Vier von fünf der Studienbeginner dieses Fachs würden keinen Abschluss darin erreichen, weil sie vorher abbrächen.

Richtig motivierend war das nicht.

Was folgte, war ein Studium inmitten WasmitMedien-Menschen, die nichts sehnlicher wollten, als eine Karriere vor einer Kamera, ein Hauen und Stechen um Seminarplätze an einem gnadenlos unterbesetzen und unterfinanzierten Institut, an dem während meiner Studienzeit drei Lehrkräfte starben, zwei davon Professoren, die das Institut aufgebaut und thematisch stark geprägt hatten, was eine Lücke hinterließ, die über nicht mehr zu kontrollierende Hausarbeiten weit hinausging.

Im zweiten Semester gab es eine Gastvorlesung, zu der der damals noch amtierende Intendant des Deutschlandfunks Ernst Elitz und der Chef des Tagesspiegels Giovanni di Lorenzo eingeladen waren. Elitz eröffnete die Vorlesung, indem er uns Studierenden im Audimax erstmal erklärte, wer in seinen Augen eine Chance auf einen Job in der Medienwelt hat: Promoviert sollte man haben, nicht älter als 27 sein bei einer Bewerbung und bitte mit Berufserfahrung aus dem Ausland versehen.

Wir sahen uns an: Was viele von uns wollten, war etwas anderes. Wir wollten das, was auf der Welt passiert, aufschreiben. Wir wollten investigative Geschichten schreiben, Missstände aufdecken, atemberaubende Bilder drehen, Nachrichten in die Welt bringen, Mancher von uns auch einfach nur sein Gesicht in eine Kamera und vor ein Mikrofon halten. Andere wollten in die Öffentlichkeitsarbeit, PR-Kampagnen organisieren, Pressekonferenzen leiten und Marken ins Gespräch bringen. Wir wussten, beide Seiten der Kommunikation brauchen Handwerkszeug. Aber eine Promotion? Auslandsstudium? Wovon bezahlen? Wie alles gleichzeitig meistern - Doktorarbeit und Broterwerb und, God forbid, Luft für Dinge außerhalb des Pflichtenhefts wie Freunde, Weggehen und Sachen, die fürs Jungsein reserviert sind?

In unsere ratlose Stille hinein erhob di Lorenzo das Wort. Und er sagte Dinge, die - wenigstens mir - den Mut gaben, meinen Weg in den Journalismus abseits des Koordinatensystems von Ernst Elitz zu finden. Er sagte: Journalismus ist ein Begabungsberuf. Einen Doktortitel brauchen Sie nicht, wenn Sie es verstehen, gut zu schreiben. Seien Sie neugierig. Seien Sie hartnäckig. Und wörtlich:

"Wenn wir Sie vorne rausschmeißen, dann müssen Sie durchs Fenster wieder reinklettern."

Letzten Freitag war ich bei den Kollegen meiner neuen Stelle bei ZEIT ONLINE in Hamburg. Auf dem Weg durchs Gebäude wurden wir von einem Mann gegrüßt. Freundliches Lächeln, schöner Anzug. Ich erkannte ihn wieder. Gerne hätte ich ihm für seinen Rat damals gedankt.

Übrigens: Mein Abschlußzeugnis hatte ich im vergangenen Februar von einem der Dozenten erhalten, der mir in der Einführungsveranstaltung vor zehn Jahren nahegelegt hatte, etwas anderes als Publizistik zu studieren. Ich habe mein Studium mit einer 1,1 absolviert. Er hat mir gratuliert. Und konnte sich beim anschließenden Sekt-Empfang nicht mehr daran erinnern, je so demotivierend aufgetreten zu sein. Wir haben drauf getrunken, dass er´s heute nicht mehr ist.