Sonntag, 29. April 2012

Austin, Piraten, Postsecret

In der letzten Zeit bin ich in der priviligierten Lage einem neuen Blog beim Entstehen und einem Blogger bei der fiebrig-freudigen Auseinandersetzung mit dem Wunder der tausend Ideen, die per "Publish" in die Welt gestossen werden können, zuzusehen. Den Enthusiasmus, der einen dazu bringt, an einem Sonntag 6:30 Uhr mit dem Notieren der neuesten Posting-Ideen in den Tag zu starten, teile ich nicht, gleichwohl weckt es die alten, schreibmüden Bloggergefühle und sorgt für ein Aufbegehren, nur noch einmal die gleiche Freude am Schreiben und am Entfalten der eigenen Ideenwelt zu erleben wie am Anfang, als man noch so begeistert über verkaterte Neujahrsmorgen und prominente Doppelgänger schreiben konnte. Man könnte sagen, ich bin Al Pacino in "Der Geruch der Frauen", nur dass die Frauen Blogs sind und ich nicht blind sondern schlichtweg faul und desillusioniert. Wer das Gegenstück zu Chris O´Donnell in dieser Analogie ist, dazu gilt es Schweigen zu bewahren, denn wer will schon mit dem sidekickstigen aller Batman Sidekicks verglichen werden.

Was gibt es zu verbloggen? Da wäre die kürzlich angetretene Reise zur SXSW Interactive 2012 nach Austin. Schon um Weihnachten letztes Jahr herum erhielt ich Nachricht, dass ich für die NZZ zu einer der grössten Netzveranstaltungen der Welt reisen dürfte. Und das mir, die sich seit Jahren hochnäsig vorm Besuch der re:publica drückt, in erster Linie, weil schon der Anblick der wartenden Crowd auf den Treppen vorm Veranstaltungszentrum meine Lust vergehen liessen (zu den grossen Standortvorteilen des Netzes gehört doch gerade, direkten menschlichen Kontakt zu Gunsten von Errungenschaften wie Tiervideos und Pornographie aufzugeben). Ausserdem waren da die einschlägigen Tweets von Ex-Handelsblattredakteuren mit verdrahteren Ambitionen gewesen über auf der #rp10 verfügbare Erfrischungsgetränke, die das Gefühl gäben, man sei ja gar nicht mehr in der "Zone".
 
Texas also. Soweit kommen die deutschen Netznasen nicht, dachte ich*. Mit der freundlich-kollegialen Aufmunterung, ich sei "dritte Wahl" - die Tickets waren ursprünglich für andere Teilnehmer gekauft worden, die nun aufgrund organisationeller Verpflichtungen nicht mehr fahren konnten - und der Bitte einer meiner besten Freundinnen, ihr J.R. Ewing Devotionalien wie eine Plüsch-Leber mitzubringen, verliess ich Zürich. Und landete in einer unerwartet liberalen, urbanen Geek-Metropole: Bis unters Dach mit Festivalbesuchern ausgebucht, voller Fahrradrikschas, freien W-Lan, ironischen T-Shirt-Beschriftungen mit Metaebene, Live-Musik aus allen Bartüren bis in die Nacht und koreanisch-texanischen Foodtrucks, kurzum "Endlich normale Menschen".

 Capitol, wacklig.

Das Beste von Austin kam zum Schein, als nach zwei Tagen Dauerregen die Sonne durchbrach und all diejenigen, die ihre kaugummibunten Tops und die "Highlight"- Giveaway-Sonnenbrillen ausführen wollten genau dies tun konnten: Auf den Strassen der Innenstadt, vor den Foodtrucks zwischen Hochhäuserzeilen, in den Sponsorzelten auf durchweichtem Gras, auf für Autos gesperrten Strassen feierten wir ein Fest. Und Ja, es ging immer wieder ums "nächste grosse Ding" nach Twitter und Oh my god, did you see this app, that´s so awesome, aber hey. Genauso lag ein Riesenhaufen Legosteine im Tagungszentrum an dem sich zwei Dutzend Menschen mit Festivalbändchen stundenlang abarbeiteten.
Arbeitsort: Hotelterasse Downtown Austin.


Und genauso seufzten 3000 Leute bei einer der Postsecret-Präsentationen von Frank Warren. Der Blog, der jeden Sonntag Postkarten mit Geheimnissen in die Welt trägt und mein Credo zum gerade momentan wieder durchgehechelten Sujet des Netzexhibitionismus geformt hat: Scham und Angst machen klein und lähmen.  Teilen hilft. Wer (mit)teilt, was ihm Angst macht oder von dem er denkt, dass es ihn zum Pariah macht, der wird das Netz als Ort finden, an dem es andere gibt wie ihn. Der wird seine Scham überwinden können. Der Haken an der Sache ist, dass das Netz keinen Filter der gesellschaftlichen Wünschenswertheit** vor Publikationen setzt. Pro Ana-Freunde finden Gleichgesinnte, genau wie dies die Menschen tun, deren grösste Scham ist, gern unter der Dusche zu pinkeln. Das Netz ist kein Richter. Es legt die Aufgabe, zu richten, in die Augen seiner Nutzer. Das Feststellen der Delegation der Pflicht sollte 2012 eine Banalität sein, ist es aber nicht, wenn man mal alle diejenigen fragt, die ihr Geld damit verdienen, denen, die das Netz nicht nutzen, zu erklären, dass es sich bei "diesem Internet" nicht um das Ende der Welt handelt.

Genau das kam mir auch wieder in den Sinn, als ich den Versuch, die Piratin Julia Schramm politisch zu vernichten - als nichts anderes kann meiner Meinung nach der Artikel von Melanie Mühl in der FAZ von vorgestern gelesen werden - las: MM macht sich zum Richter des Blogs und des Twitterfeeds von JS. Sie verurteilt aber nicht, dass JS diese Kanäle nutzt. Was M. Mühl suspekt ist, ist der "Ich-Roman", den Blog und Twitter bilden, sie kritisiert das "Wie". Sie will nichts mitgeteilt bekommen, keinen mäandrierenden Meinungsbildungsprozess, keine Befindlichkeiten. Nichts Menschliches soll aus den Kanälen eines politisch Agierenden kommen. Dabei sind es genau der "Exhibitionismus" und auch die Widersprüche, die online geäussert werden weil der Kanal das leichte Mitteilen nahe legt, die eine Chance sind für unsere Sicht auf Politiker: Sie erleichtert Rechenschaft. Und sie geben den Blick frei darauf, wo die Grenzen zwischen Parteilinie und persönlicher Überzeugung verlaufen.

Die Augenhöhe, dieses strapazierte Wort: Sie ist denen suspekt, die sozialisiert sind in einer publizistischen Welt des Verlautbarens statt des Diskurses, denjenigen, die ihr Selbstbewusstsein daraus ziehen, dass ihr Inhalt unter "Artikel" steht und nicht unter "Kommentar" oder "Blog Post". Ein Politiker, der so kommuniziert - widersprüchlich, menschlich, chaotisch, nachvollziehbar, privat, professionell, alles in einem Kanal: Der kann ja nicht zurechnungsfähig sein. Den muss man lächerlich finden. Denken sie. Verurteilen des Heilsversprechen durch eine diskursive Öffentlichkeit im Netz während sie es in Offline-Kanälen selbst für sich in Anspruch nehmen.

Über die Art, die die FAZ die Piraten nutzt (oder läuft es umgekehrt) um Profil zu gewinnen, denke ich derzeit allgemein viel nach. Ich frage mich, warum man JS verreisst, Marina Weisband ein Blog gibt, Christoph Lauer einen Gastbeitrag anbietet. Ich frage mich, ob die Transparenz der Piraten und ihre damit auch öffentlich leicht ablesbaren Animositäten zum Nachteil gereichen wenn sie wie Marionetten von einem Medium je nach verteilter Rolle - Widersprüchlicher Vieltwitterin,  optimistischer Antitroll-Idealistin, schambefreiter Lautsprecher - je nach Lust und Laune als Trafficmaschinen angeheuert werden. Ich frage mich, ob sie miteinander sprechen, die Protagonisten des Theaterstücks, dass einzig und allein faz.net Profil bringt weil man auf Leserschaft derer spekuliert, die sich mit den Piraten beschäftigen - nicht zwingend die gleiche Gruppe, die ein Jahresabo der gedruckten Ausgabe für 540 Euro erstehen würden. Ich frage mich, was die von Schirrmacher gekaperten Piraten einander erzählen. In den DMs. Und dann warte ich einfach auf die nächsten Tweets und denke es mir.

Was soll das heissen? Dass online gut ist. Aber dass es Fallstricke mit sich bringt, eben nicht miteinander zu sprechen, vor allem wenn man eigentlich ein gemeinsames Ziel verfolgt. Dass der Fakt, dass jemand twittert, ihn nicht zu einem schlechten Politiker macht. Dass der Fakt, dass jemand keine Korrekturschleife für seine Online-Kommunikation benutzt und man das beanstandet mindestens genausoviel aussagt über den, der richtet wie über den, der gerichtet wird. Und, dass meine Fähigkeit, einen langen, kohärenten Blogpost an einem sonnigen Sonntagnachmittag zu verfassen, begrenzt ist. Glücklicherweise is das nicht weiter schlimm, es hat Platz und Zeit für mehr. All the news thats fit to blog are way more than all the news that fit to print. Aber wem sage ich das.

*und irrte - aber immerhin blieben sie unter sich - siehe der eigens angemietete Foodtruck von Menschen im Online-Geschäft aus Hamburg, der nur per Gästeliste zu betreten war und entsprechend dann auch nur von Hamburgern, die sich in Hamburg auf die Gästeliste hatten schreiben lassen, besucht wurde. Way to go, Reeperbahn! Für Sektierertum und Fischklüngel lohnt der Flug über den Atlanktik.

**das Tolle an Blogs ist ja, dass man genau solche zweifelhaften Wörter beutzen kann. "Wünschenswertheit" passiert genau ein Korrektorat auf dieser Welt und zwar das in meinem Hirn.

Donnerstag, 12. April 2012

Sachen, die ich mache, wenn ich nicht hier bin.

Jedesmal, wenn eine Festanstellung geboren wird, stirbt ein Blog, so ein altes Sprichwort aus den Weiten des Internets. Um den Verendungsprozess aufzuhalten, greife ich heute auf das Oil of Olaz der Publizistik zurück: Ich verwende Material, das an anderer Stelle bereits publiziert wurde. In meinem Fall handelt es sich um ein Interview zum Thema "Social Media und Journalismus", das Zanet Zabarac, Studentin der Uni Sankt Gallen mit mir heute morgen geführt hat. Das Interview macht sich gut als Antwort auf den Elternklassiker "Und was genau arbeitest du da jetzt?", den Menschen mit Broterwerb am schönsten Ort der Welt, nämlich dem Internet, häufiger hören.

Liebe Eltern, liebe Leser: Genau das macht eine Redakteurin Community /Digital bei der Website einer Zeitung. Zumindest wenn diese Person Ich ist.

F: Erzählen Sie, was Sie so machen…
A: Ich wurde angestellt als Community Redakteurin. Diese Rolle sieht vor, das, was es schon an Community-Aktivitäten bei der NZZ gibt, zu sichten, zu ordnen und einen Überblick darüber zu verschaffen, wo wir eigentlich stehen. Darüber hinaus auch Ziele zu definieren, wo wir hin wollen und unsere Strategie aufzusetzen. Es geht auch darum, Manpower einzusetzen, um User Generated Content richtig in die journalistische Arbeit einzubeziehen. Ich denke in vielen Häusern ist der Fall jener, dass man sich zwar zur Interaktion geöffnet hat, indem man Kommentare zulässt, einen Facebook- und Twitterkanal hat, aber an der Feedbackschleife, also eigentlich dem, was Social Media so grossartig macht, an dem scheitert es oftmals aufgrund von Arroganz, Unwillen, aber hauptsächlich wegen fehlender Zeit. Das hat man hier erkannt und mich geholt. Meine Rolle ist es, diese Feedbackschleife herzustellen.

F: Und wie sind Sie zu Social Media gekommen?
A: Ich habe meinen Weg zu Social Media durch das Bloggen gefunden. Das Social Media Thema hat sich damals immer auf einer Parallelebene befunden, neben meiner privaten Nutzung. Wobei ich finde, dass diese Grenzziehung zwischen privater und beruflicher Nutzung, für jemanden, der modern publiziert, sehr schwierig ist.

F: Welchen Einfluss haben Social Media auf ihr Tagesgeschäft?
A: Es ist sehr wichtig zu betonen, dass die verschiedenen Ressorts sehr unterschiedlich mit Social Media umgehen. In der idealen Welt hätte man einen End to End-Prozess; in dem der Publizist schreibt, Korrektur lesen lässt, eine runde Sache daraus macht, den Artikel publiziert, die Reaktionen darauf einsammelt und auf die Interaktion achtet. In der realen Welt hat man in der Nachrichtenredaktion die Situation, dass man aber weiter produzieren muss. Man kann nicht zurück in die Feedbackschleife gehen, um zu sehen, wer jetzt was noch geschrieben hat; man muss schon am nächsten Artikel arbeiten. Im Ressort Digital, wo ich arbeite, ist es auch mal möglich, länger an einem Artikel zu schreiben und intensiver zu recherchieren und man kann dann auch bei der nächsten Recherche Zeit finden, um zurück zu gehen. Aber das ist sehr ressortspezifisch. Im Digitalen, Feuilleton und vielleicht noch in der Wirtschaft ist das möglich, in der tagesaktuellen Politik sicher nicht. Da braucht es eben genau solche Relaisstationen wie mich, die das Feedback für alle anderen einsammeln und weitergeben.

F: Wo sehen Sie Unterschiede zwischen dem klassischen Journalismus und dem Journalismus, der Social Media mit einbezieht?

A: Eigentlich hat sich nicht so viel verändert. Journalisten haben immer schon Laien genutzt, um Geschichten zu generieren. Was sich verändert hat, ist das Ausmass, in welchem Meinungen solcher „Nicht-Profis“ verfügbar sind und damit auch der Aufwand, aus diesen klugen Stimmen Inhalt zu generieren. Ich denke, das, was sich am meisten verändert, ist der Anspruch an Journalisten, diese Werkzeuge zu bedienen. Es reicht nicht zu wissen, dass es Twitter gibt, man muss wissen, wie man aus diesem Werkzeug Geschichten ziehen kann.

F: Wo sehen Sie Chancen und wo Gefahren, die sich durch den Einbezug von Social Media in die journalistische Praxis, ergeben?
A: Die Chance ist, dass man auch im internationalen Nachrichtenmarkt, viel mehr Stimmen und Quellen einfangen kann. Die Gefahr ist, dass man, gerade weil es so viele Beiträge gibt, in der Quellenprüfung versagt.

F: Sehen Sie in partizipativen Formaten eine Konkurrenz oder Ergänzung zum professionellen Journalismus?
A: Eine Konkurrenz sehe ich überhaupt nicht. Ein Journalist verfolgt ganz andere Motive als beispielsweise ein Blogger; Er legt Nachrichtenwerte zu Grunde, überprüft Fakten und hat mehr als eine Sicht der Dinge. Der Blogger versucht das darzustellen, was er in seinem Leben gelernt und validiert hat, holt aber nicht fünf andere Meinungen ein. Ich glaube in Ergänzung zu einander, kann daraus eine gute Publikation entstehen.

F: Denken Sie, dass Social Media noch mehr an Relevanz für den Journalismus gewinnen werden?
A: Ich glaube es hängt davon ab, wie geschickt sich Journalisten Werkzeuge der Social Media aneignen werden. Wenn das passiert, dann können Social Media zu einer extremen Bereicherung für den Journalismus beitragen.

F: Sollte Ihrer Meinung nach, in Zukunft jede Redaktion einen Social Media-Redakteur beschäftigen?
A: Man sollte auf jeden Fall darüber nachdenken. Ich glaube, dass in der Welt von Social Media, Gespräche über dich als Medienmarke geführt werden, ob man daran Teil hat oder nicht. Wenn ich als Marke die Wahl habe, dann möchte ich daran teilnehmen. Deswegen geht man auf solche Plattformen, um sich eine Stimme zu besorgen.

F: Was sind Einschränkungen?
A: Wie gesagt, jeder Journalist sollte die Verantwortung für seinen Artikel übernehmen und von sich selbst aus mit Social Media arbeiten. In der realen Welt gestaltet sich dies wegen des Zeitdrucks aber schwierig. Man kann keinen Journalisten dazu zwingen, mit Nutzern zu arbeiten, aber ein guter Journalist wird das tun, weil dies seine Arbeit stark bereichern kann.


F: Wie nutzen Sie Social Media zur Themenfindung und Recherche?
A: Ich schreibe im Digitalressort, da stammen die Nachrichtenquellen zu einem signifikanten Teil aus Blogs. Die Blogs sind auch für Unternehmen viel direktere Wege geworden, etwas zu kommunizieren. Manchmal stellt man auch eine Frage direkt ans Publikum und schaut, welches Feedback man erhält. Wobei ich da eher kritisch dazu eingestellt bin. Es kann nicht sein, dass man mal auf Twitter nachfragt und das war’s dann mit der Recherche. Das ist nur ok wenn es in Ergänzung zu mehr Recherchequellen erfolgt.

F: Auf welchen Social Media Plattformen verbringen Sie im Bezug auf Ihre journalistische Tätigkeit, die meiste Zeit?
A: Blogs und Twitter.

F: Warum gerade auf diesen Plattformen?
A: Blogs sind Gradmesser für Trends und leisten eine gute Vorleistung, auf die man als Journalist drauf setzen muss. Ich nutze natürlich auch andere Kanäle, ausser Facebook. Das hat was mit meiner Einstellung zu journalistischen Ethik zu tun. Ich finde es problematisch, dass man in einem geschützten sozialen Netzwerk rumwildert und nach Informationen sucht, die Leute vermutlich als für gesichert erachten.

F: Wann sind Social Media besonders für die Recherche geeignet?
A: Ich glaube, das kann man nicht gegeneinander ausspielen. In Ergänzung zueinander erreicht man sicherlich das beste Ergebnis. Ein guter Journalist wird nie nur eine Quelle benutzen. Wenn es darum geht, eine gewisse Langfristigkeit einer Geschichte nachzuvollziehen, dann sind Blogs ganz toll, weil sich da jemand über eine lange Zeit sehr intensiv mit einem Thema beschäftigt hat.

F: Wie überprüfen Sie die Glaubwürdigkeit?
A: Das klingt vielleicht albern, aber das erste sind mein Bauchgefühl und Instinkt. Danach muss man einfach weiterrecherchieren. Alles googeln was man noch zu diesem Thema finden kann und schauen, ob man vertrauenswürdige Verbindungslinien ziehen kann. Es ist auch durchaus sehr oft der Fall, dass man einfach mit den Leuten spricht; eine E-Mail schreibt oder ein Telefonat führt.

F: Wo liegen im Vergleich zu anderen Recherchequellen die Stärken von Social Media-
Plattformen?
A: Die vielgrössere Bandbreite an Quellen und potenziellen Gesprächspartnern. Das kann kein anderer Kanal.

F: Wie gehen Sie vor, beim Filtern von Online-Inhalten, Beiträgen, Kommentaren, etc.?
A: Die Herausforderung besteht nicht nur darin, die Werkzeuge zu nutzen, sondern sie auch klug zu nutzen. Beispielsweise indem man sich kluge Listen mit klugen Leuten zusammenstellt und verlässlichen Menschen folgt. Diese Sachen muss man sich langsam aufbauen, was vermutlich auch die grösste Hemmschwelle bei der Arbeit mit Social Media bei Journalisten ausmacht.


F: Holen Sie Meinungen aus der Community ein, bevor Sie mit dem Schreibprozess beginnen?
A: Definitiv. Ich hätte mir auch vorstellen können, eine Geschichte darüber zu schreiben, wie die Community auf den Kauf von Instagram durch Facebook reagiert hat. Dann wäre die Community die Geschichte und das ist bei Branchennews oft der Fall. Da gehört es dann dazu, Stimmen und Meinungen einzuholen und diese abzugreifen, zu gewichten und einzuordnen.


F: Wie lassen Sie Nutzer an Ihrem Schreibprozess teilhaben?
A: Ich kenne viele Kollegen, die sagen, wenn sie morgens anfangen, hätten sie ihre Geschichte schon im Kopf. Ich versuche das differenzierter zu veranstalten. Ich glaube es ist so, dass man eine Idee hat, recherchiert und dann die Geschichte entsteht. Die Recherche passiert eben unter Einbeziehung von Stimmen. Insofern beeinflussen Stimmen oder unsere Leser definitiv das, was ich schreibe.

F: Welche Social Media Tools nutzen Sie für die Interaktion mit Nutzern?
A: Bei uns im Haus ist es die eigene Kommentarfunktion, Twitter sowie Facebook und in ganz geringem Masse Google+. Parallel schauen wir, welche Tools sich aufbauen und ob diese etwas für uns sein könnten. Im Moment besteht die Basis daraus, diese drei Kanäle gut zu bespielen.

F: Wie gross ist die Zahl der Rückmeldungen aus dem Publikum?
A: Kann ich nicht wirklich beurteilen, weil ich keinen richtigen Massstab ansetzen kann, also keine Zahlen anderer Medien mit ähnlichen Leser- und Werbemarkt gesichert kenne. Ich schätze wir haben an einem guten Tag 600-700 Kommentare. Das Publikum hat auch etwas davon, weil das Produkt, das sie konsumieren durch ihr Feedback besser wird. Es hat sich mittlerweile durchgesetzt, dass wir gemeinsam an einer publizistischen Qualität arbeiten. Die Nutzer schätzen dies auch sehr; die meisten positiven Rückmeldungen erhalten wir auf Facebook und Twitter – auf unserer eigenen Kommentarfunktion läuft das anders ab. Ich schätze dies liegt auch daran, wie Menschen die Zeitungen wahrnehmen. Wenn man im sozialen Netzwerk unterwegs ist, entscheidet man sich bewusst dazu, dieses Medium zu nutzen, z.B. indem man auf „Gefällt mir“ drückt. Eine Zeitungswebseite ist ein komplett anderer Ort; man ist eigentlich nicht bemüht diesen Ort sauber zu halten, was sicherlich auch mit der Identität, die man im Internet hat, zusammenhängt. Auf Facebook ist man mit einem Profilfoto und wahrscheinlich mit dem Klarnamen und deshalb auch darum bemüht, sich nicht als Trottel zu outen oder Leute zu beschimpfen. In unserem Kommentartool ist das nicht unbedingt der Fall; man kann unter einem Pseudonym kommentieren – was wir aber auch wollen, da man journalistisch auch durchaus davon profitieren kann, z.B. wenn es um Informationen geht.

F: Wie reagieren Sie darauf?
A: Was wir merken ist, dass je mehr wir machen, je mehr wir in die Interaktion gehen, desto mehr gute Dinge passieren. Ich finde es wichtig, in Situationen, die eskalieren, einzugreifen. Der zweite Schritt ist, dass man direkt mit den Leuten spricht und der dritte, dass man den Thread schliesst. Auf Facebook erhalten wir viel mehr Anregungen; da können wir auch viel direkter darauf reagieren. Es kommt auch vor, dass wir Fragen stellen, wie die Leute zu einem Thema stehen. Dann kommen Antworten und auch neue Fragen, wo ich dann viel besser darauf eingehen kann. Im Kommentartool ist es meisten so, dass man auf inhaltliche Fehler aufmerksam gemacht wird, in diesem Falle besteht die Interaktion eigentlich nur daraus, dass ich rein gehe und mich für den Hinweis bedanke. Meine Erfahrung ist, dass die Leute sehr dankbar sind und es sehr schätzen, wenn sie ernst genommen werden. Ich denke, wenn wir das schaffen, dann haben wir viel geschafft, weil wir endlich Augenhöhe hergestellt haben und nicht mehr diejenigen sind, die aus einem Elfenbeinturm dozieren. Die Zeiten sind lange vorbei.


F: Schreiben Sie Artikel fertig oder lassen Sie den Artikel „wachsen“ durch den Einfluss von
Meinungen aus der Online-Community?
A: Natürlich lassen wir sie wachsen. Ein konkretes Beispiel meines Kollegen aus dem Ressort Digital: Er wurde auf Twitter suspendiert, bzw. der Account wurde gesperrt, ohne dass er wusste wieso. Für uns im Ressort Digital ist damit ein wichtiges Werkzeug weggebrochen und von Twitter kam gar kein Support. Daraufhin hat mein Kollege einfach einen Artikel darüber geschrieben, wie doof sich das nun anfühlt; im Prinzip ging es um die Supportkultur von Twitter. Daraufhin ist dann die Twittermaschine angesprungen; die Sprecherin von Twitter Deutschland hat sich über Twitter bei uns gemeldet und geholfen. Danach haben wir den Artikel natürlich aktualisiert. Das ist ein Beispiel dafür, dass Artikel durch die Interaktion mit Nutzern wachsen können, auch wenn in diesem Falle die Nutzer hohe Tiere bei Twitter waren.

F: Welche Motive verfolgen Sie damit?
A: Erstmals ist es schlichtweg eine Bereicherung und Verbesserung unseres Inhalts. Wir wollen in einen aufrichtigen Kontakt mit dem Nutzer kommen, vielleicht auch eine grössere Bindung herzustellen. Ich glaube, dass Nutzer einem Medium, das auf Inputs reagiert und mit seinen Lesern spricht, eher folgen werden, als einem, dass dies nicht tut. Ich glaube es ist auch wichtig zu betonen, dass Social Media nicht bedeutet, dass man sich jedem Leserdiktat unterwerfen muss; es gibt auch ganz viele dumme Menschen im Internet. Aber da, wo es angebracht ist zu reagieren, kann dies positive Effekte für das publizistische Produkt haben. Und nicht zuletzt die Leserbindung stärken.

F: Werden Ihnen auch ganze Texte oder Bilder eingesendet?
A: Ist mir persönlich noch nicht passiert, aber ich denke, das ist durchaus noch möglich.

F: Sind es meist die gleichen Leute, die kommentieren?
A: Definitiv. Auf unser eigenen Plattform ist es unser grösstes Problem, dass wir sehr toxische und thematisch fokussierte Kommentare ohne Debattencharakter erhalten. Ich denke es geht vielen Medien so wie uns; wir haben einen harten Kern von zehn bis zwölf Leuten, die immer über bestimmte Themen schreiben und gezielt jeden Artikel nach diesen durchforsten und eine Kommentarschlacht anzetteln, um ihre Meinung kundzutun. Ohne Offenheit für andere Standpunkte, ohne Beweise für Behauptungen. Das ist nicht nett, weil das uns in unserer journalistischen Arbeit nichts bringt, wir aber auch nicht sagen können, dass wir das Kommentartool ausmachen. Wir wollen mehr kluge, engagierte Köpfe auf dem Portal haben, aber solange die alten Köpfe auf dem Portal sind, gestaltet sich das sehr schwierig.

F: Entwickelt sich mit der Zeit ein Gefühl der kollegialen Zusammenarbeit?
A: In meinem persönlichen Account gibt es ein paar Kontakte, bei denen ich weiss, dass sie gute, verlässliche Quellen sind. Aber ich muss betonen, dass die Rede vom Journalisten als Marke schon stimmt, vor allem im sozialen Netzwerk. Das heisst einfach, dass ich nicht erwarten kann, dass ein Nutzer mit einem bestimmten Ressort in Verbringung tritt, er wird viel eher mit einer Person in Verbindung treten. Ein Journalist, der diese Marke gut aufbaut, wird einen Nutzen daraus ziehen können.

F: Haben Leser manchmal Fehler in Ihren Artikeln entdeckt?
A: Das passiert sicher einmal pro Tag, dass wir eine Rückmeldung zu Rechtschreibfehlern, Überschriftenfehlern, etc. erhalten. Dann wird das korrigiert und im Idealfall auch transparent gemacht, dass wir es korrigiert haben.

F: Wie offen sind Sie für Verbesserungsvorschläge seitens der Leser?
A: Der typische Journalist denkt, er hat mit diesem Artikel das Meisterstück abgeliefert und hat alle Stimmen gehört. Ich denke die Bereitschaft zur Selbstkritik ist nicht besonders ausgeprägt, da schliess ich mich auch ein. Wenn man ein bisschen Abstand einnimmt und sich auch bewusst macht, dass man vielleicht auch etwas aus der Stimme gewinnen könnte, dann wird das oft bestätigt. Ich bin da relativ offen, aber bei meinen Geschichten ist es -zum Glück- noch nicht oft vorgekommen, dass mich jemand heftig kritisiert hat.

F: Lassen Sie die Kommentare der Leser in Ihre Artikel zurückfliessen?
A: Wenn jemand in der Sache richtig liegt, dann werde ich ihm das auch so sagen und je nachdem den Artikel ergänzen.

F: Ist es bereits vorgekommen, dass Sie basierend auf einem Online-Kommentar eine Geschichte geschrieben haben?
A: Es ist anders rum; ich habe mir im Laufe der Zeit ein Netzwerk aufgebaut, auf das ich zurückgreife und dieses Netzwerk findet eben auch auf Facebook und Twitter statt. Meistens habe ich eine Idee, gehe dann ins Netzwerk und schaue, ob mir das Futter dafür liefert. Ich halte es aber nicht für ausgeschlossen, dass das mal passiert.

F: Gibt es eine Frage, die ich Ihnen noch nicht gestellt habe?
A: Was man machen könnte, um diese vielen klugen Stimmen zu bekommen.

F: Was könnte man denn da machen?
A: Das ist die Frage, die ich mir selber stelle. Ich denke es hängt zum einen damit zusammen, welche Themen man auf seiner Plattform stattfinden lässt, welche Tonalität vorherrscht und welche Autoren man hat. Meine Strategie wäre es, zu versuchen die Stimmen zu kriegen, von denen ich glaube, dass sie Menschen anziehen, die ich eher hören möchte, als den superkonservativen frauenfeindlichen Islamisten oder den Anti-Islamisten. Im Grunde muss das Ziel sein, ein diverses journalistisches Angebot zusammenzustellen, um so verschiedene Stimmen auch in der Resonanz darauf reinzuholen.