Sonntag, 16. Januar 2011

Vom Zwitschern und Fliegen

„Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare.“ sagt Matthias Rust während er den Stift ansetzt um ein Spionage-Geständnis zu signieren, das ihn einige Jahre in eine sowjetische Gefängniszelle wandern lässt. Kurz zuvor ist er in walking distance des Roten Platzes gelandet, die Inszenierung des Stückes „Rust- Ein deutsches Messias“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg lässt keinen Zwiebelturm in der Pappkulisse aus, um das gewahr werden zu lassen. Studio Braun, Inszenatoren des biographischen Schabernacks mit Durchbrüchen der dritten Wand etwa dann, wenn Heinz Strunk sich dem Kampf um die Besetzung der Rustschen Mutter stellen muss, bringt mit diesem Satz des als Inbegriff der Linkischkeit inszenierten Rust über mir eine zugegebenermaßen der Sparfraktion angehörende Glühbirne der Eingebung zum Brennen und ich denke an Julian Assange.

Die Floskel über die Formulare öffnet für mich die Verbindungstür zwischen Professor Rusti und Assange, diesen blassen, schlanken, jungen Männern, geeint in Spezialistenwissen, darauf basierenden Sendungsbewusstsein und der Bereitschaft, im Dienste dessen gegen Gesetze zu verstoßen. Ein bißchen Weltfrieden hätten die beiden gerne: Alle Menschen werden Brüder: Geeint in Luftraum und Informationen, letzteres von Bruns im Zusammenhang der Beschreibung kollektiver Produktionsprozesse im Begriff des „holoptism“ zusammengefasst: Jeder kann alles sehen und ist deswegen informiert genug, rationale Entscheidungen zu treffen um seine Fähigkeiten maximal nutzbringend einsetzen zu können. Ob im Eigennutz oder dem des sozialen Ideals einer Gemeinschaft, das bleibt undiskutiert. Bruns scheint eher Idealist als Psychologe zu sein und vernachlässigt die Motive in seiner Beschreibung netzbasierter, teilnahmeoffener Gemeinschaftsproduktion.

Dabei ist die Frage nach der Deutung des Auftritts des Ungewöhnlichen keine Uninteressante: Ist es Eigennutz oder Altruismus, der die Auskenner eint, über die lebensläufige Parallele der Anschuldigungen sexuell übergriffiger Art hinaus? Ist es das alte, häßliche Gesicht der Selbstdarstellung oder unschuldig- ungeduldiger Innovationsgeist, der jenseits von Egopflege Gutes will (und deswegen unbestritten Schlechtes bewirken kann). Für mich ist diese Frage nach dem Motiv wichtiger als eine Analyse der tools der jeweiligen Weltveränderungsidee. Die heißt bei Rust Cessna, bei Assange heißt sie wikileaks und bleibt doch jeweils eben nur das Werkzeug einer Idee. Wobei genau diese das ist, was das Verändernde ist:

Wikileaks ist nicht die große Revolution. Die große Revolution ist eine Idee, ein „mind set“, das als „everybody leaks“ beschrieben werden könnte: Die Bereitschaft, jedes Erlebnis, jede Lebensminute mit der Welt, die einem wiederfährt, zu teilen; ihr in barer Münze zurückzuzahlen, was sie einem (oder einer) an zickigen Kaffeeverkäufern, grantigen Busfahrern, olfaktorisch abenteuerlichen Mitbevölkerern des öffentlichen Raums entgegen bringt. Das populärste Werkzeug dieses mind sets ist dafür momentan wohl Twitter.

Twitter, dieses Icholot, dieser Sender der Befindlichkeitsbekenntnisse seiner Nutzer, die sich willfährig in eine peep show begeben auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Die Motivationen dafür liegen, das mutmaße ich mal in gewohnter Altklugheit vor mich hin, wie bei so ziemlich jeder Aktivität körperlich Erwachsener wohl in ökonomischen und/oder sexuellen Begehrlichkeiten oder aber in der Schnittmenge aus beidem: Es geht um Selbstdarstellung, Seelenstriptease, Produktpräsentation, Markenpflege. Dabei ist die Kalkuliertheit dieser Zwecke unterschiedlich ausgeprägt. Das weltenschlechte dieser Behauptungen weiter relativierend kann auch der kommunikationspsychologische Funktionszusammenhang von Selbstoffenbarung in Abhängigkeit vom Beobachten des Verhaltens der Anderen angeführt werden: Je mehr die Anderen preis geben, umso eher sieht sich der Einzelne nicht nur in der Lage, sondern auch verpflichtet dies zu tun, „die Preisgabe privater Informationen“ gilt „quasi als Vermittler sozialer Interaktion“, dabei sind „wichtige Gratifikationen, die Nutzer von Web 2.0 Angeboten erwarten, eng mit self-disclosure verbunden.“. Anders ausgedrückt: Wer Aufmerksamkeit will, muss offen sein (Und Ja, das ist die digitale Version von: „Wer ficken will, muss freundlich sein.“). Oder das überzeugende Gefühl vermitteln, dies zu sein.

Das Gefährliche und das Verführerische an Twitter ist dabei auch, dass es dem Bedürfnis des „venting“, des Dampf-Ablassens, digitales Werkzeug ist: Ohne hohe technische Hürden kann mit einem Adressatenkreis vermeintlich Gleichgesinnter (denn hey: My Netzwerk ist your Netzwerk, wir müssen uns ähnlich sein, wir digitalen Auskenner, wir early adopter mit der Fähigkeit, profundes wie banales in Haiku-esk von 140 Zeichen zusammenzufassen) geteilt werden, was Wichtig erscheint. Und da der Aufwand, dies zu tun, gegen Null geht solange die digitale Nadel smartphone jederzeit gesetzt werden kann, ist es auch müßig, die Mischung aus Banalität und Profundheit, tiefer Privatheit und höflich formulierten Programmhinweisen des Ersten Deutschen Fernsehens in einer Timeline zu konstatieren: Diese Mischung und der Wunsch nach Aufmerksamkeit, geleitet vom Gefühl, diese über Kommunikation, Selbstoffenbarung, Lästerei und weiß der Geier was zu erringen, ist es, die Twittern ausmacht und die dazu führt, mal eher tief und mal flach zu schürfen, mal nur mitzulesen, mal reinzuquatschen, mal zu verlinken, zu kommentieren und zu meckern.

Diese Mischung, in der Uses und Gratifications-Forschung als Gefühl der „Selbstwirksamkeit“ nachgewiesenen Mediennutzungsanreiz computervermittelter Kommunikation, ist es, die das Icholot befeuert. Dies wird maßgeblich gestützt vom Eindruck oder der imaginierten Möglichkeit im Netzwerk das eigene Signal abgleichen zu können mit einem oder mehreren anderen Nutzern. Der Reiz, öffentlich zu kommunizieren, was nur privat verstanden werden kann, ein Theaterstück zu spielen vor einem Zuschauerraum, von dem man nicht weiß, wer drin sitzt, wer zuschaut, wer lieber das Auto umparken geht und wer sowieso seit 2 Stunden im Foyer beim dringenden Telefonat mit dem Büro feststeckt, sorgt dafür, dass sich Menschen digitale Masken aufsetzen, enfant terrible-eskes schreiben, während sie mit Wollsocken im verschlissenen Pyjama auf der Couch sitzen, gänzlich unfatal rechterhands den Leonard Cohen Soundtrack ihrer Wunschidentität in der mobilen Youtube-Suche zusammenklauben während die linke Hand zu Erdnussflips und dem Digitalreceiver sowie der Aufzeichnung der neuesten Folge „In aller Freundschaft“ greift.

Beachtenswert: Kein twitter auf dem anwesenden Bildschirm.

Die Möglichkeit einer digitalen Maskerade, die verhüllt, wozu es analog nicht reicht, verführt zu Verbal-Dhiarroe und mehr noch: Sie reizt zu einem Verhalten, das Menschen mit küchentischpsychologischen Halbwissen wie ich als „passiv agressiv“ bezeichnen würden. Lieber gesenkten Hauptes die digitale Zunge spitzen als den Mut zu haben, reale Meriten (und reale blaue Flecken) zu riskieren mit einem herzhaft laut ausgesprochenen „Arschloch“ beim morgendlichen Rempler in der vollgestopften U-Bahn oder anderen Ärgernissen. Lieber in Anonymität in Ruhe Hass absondern gegen den Chef als den unbequemen Unbill von Kündigung und folgender Ungewissheit auf sich nehmen. Lieber Beschwerden über die Orgasmusgeräusche der Nachbarn verbreiten als darüber nachzudenken, wie traurig es ist, dass man selbst nicht Verursacher dieser Geräusche ist und so gänzlich mit Analogen Amouren beschäftigt, dass Dezenz und Snarkiness verschwinden.

Die Ironie der Tatsache, dass ich all dies semi-anonym blogge, bleibt mir übrigens nicht verborgen. Andererseits ist Konsequenz nichts, wofür ich hier bezahlt werde, da nichts hier irgendwas ist, wofür ich bezahlt werde. Insofern gönne ich mir das, als Junkie die Wirkungsweise der Nadel zu beklagen.

Womit ich mit anderen Worten sagen möchte: In diesem Abrechnungstext zu digitaler Maskerade hat sich auch ein Quentchen Selbstkritik versteckt. Immerhin: Ich habe letztens, als die schreckliche Nachbarin die ihr eigene Mischung aus Christina Aguilera und Damien Rice in Stadionlautstärke laufen ließ, einfach mal geklingelt und sie analog darum gebeten, dies zu unterlassen. Und es hat geklappt! Der reale Mist hat aufgehört. Mit der Folge, ihn digital nicht mehr dokumentieren und im Icholot mit der Hoffnung auf Anschluss unter dieser Nummer verlautbaren zu können. Die entscheidende Frage ist, ob das immer der Preis ist, den wir bereit sind zu zahlen.