Mittwoch, 3. Oktober 2012

Einheit

Ich sitze vor dem Fernseher, später als ich es normalerweise darf. Meine Eltern stehen im Zimmer, wir schauen auf den Bildschirm und sehen Menschen, die fröhlich durch eine Nacht in einer anderen Stadt tänzeln. Ich verstehe nicht soviel davon, was da passiert. Ich höre immer wieder das Wort "Wahnsinn"

Ein paar Wochen später ziehen wir um, aus der Platte in ein Haus hinter einem See am Wald. Die Schule ist nur einmal über die Straße entfernt. Das Schulhaus hat hohe Fenster und ist alt, keines der Sorte, in die ich vorher ging und dessen Schnitt in allen Städten des Landes gleich ist, so dass man sich, steht man aus welchen Gründen auch immer in einem anderen Exemplar vom Schultyp "Erfurt", sich sofort in diesem Standard-Bildungsplattenbau auskennt.

Es gibt noch einen Fahnenappell ein paar Wochen lang. Einmal in der Woche gehen wir mit einer Uniform in die Schule (Rock, Bluse, Halstuch, Käppi), stehen im Kreis auf dem Schulhof, eine Fahne wird gehisst und ein Erwachsener zählt auf, wer sich bewährt hat und wer sich schlecht verhalten hat, weil er gegen die Pionier-Gebote verstoßen hat.

Nach ein paar Wochen ist die Musiklehrerin verschwunden. Noch ein paar Wochen später die Direktorin. Ich höre das erste Mal das Wort "Staatssicherheit".

Dann gibt es keine Appelle mehr.

Während manche noch auf ihren Telefonanschluß warten, gibt der erste Junge aus der Klasse mit seinem Videorekorder an. Die Eltern arbeiten, lassen uns in Ruhe Kind sein und uns nicht merken, ob und welche Unruhe sie umtreibt. Irgendwann verlieren manche ihre Arbeit. Das Haus, in dem meine Mutter gearbeitet hat, wird abgerissen.

Ich höre das erste Mal das Wort "Treuhand".

Wir werden alle groß und zusammen mit anderen wechsle ich auf ein Gymnasium im Neubaugebiet in der Nähe des Parks, in dem ein Schlößchen steht, mitten unter Dreizehngeschossern.

Im Geschichtsunterricht fragt man uns irgendwann, ob die DDR ein totalitärer Staat war. Fangfrage. Wir antworten das, was wir glauben, dass unser Gegenüber es hören möchte, je nachdem, wer dieses Gegenüber ist. Die Erwartungen unterscheiden sich je nachdem, mit wem man spricht. Später lernen wir, manchmal zu schweigen. Noch später lernen wir, dass das Schweigen uns nicht hilft.

Nach einigen Jahren gehe ich nach Berlin, aber ich erhalte auch eine Zusage aus Dortmund. Ich treffe und freunde mich mit Menschen aus Schleswig-Holstein, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg an. Ich bereise Europa und die USA und bin mit 25 weiter weg von zu Hause gewesen als meine Eltern mit 40.

Mein Weg liegt vor mir und er liegt in meiner Hand. Nicht in der meiner Herkunft.

Dafür bin ich am 3. Oktober dankbar.