Sonntag, 2. Oktober 2011

Fragen, Antworten, Marmelade oder: Kommunikationskongress 2011

Es reicht noch nicht zur Paradoxie, bemerkenswert- zumindest für den, den´s betrifft und im Falle der Egoumstülpung Blog ist das immer noch yours truly- ist es trotzdem wenn ein und dieselbe Veranstaltung gleichzeitig Antworten zu Fragen gibt, die seit einem Jahr auf das Carportvordach der Schädeldecke hageln und manchmal mit Anlauf ins Gemüt durchschlagen während Fragen anderer Belange kolossal unterbeantwortet werden. Die Veranstaltung, die ich meine, war der Kommunikationskongress diesen Jahres, wie immer im schönen sozialistischen Prachtbau des bcc, dessen Kuppeldecke fast schon traditionell einmal jährlich als Jahresveranstaltung des Bundesverbands der deutschen Pressesprecher zum Kommunikanenstadl einlädt. Da treffen sich einige derer, die in irgendeiner Form vom Sprechen und Schreiben im Dienst eines Anderen leben. Man nennt das Public Relations Fachtagung.
Es war mein dritter Kongress und es war inhaltlich aus meiner Sicht das stärkste Jahr - z.B. weil endlich über die konkrete Anwendung von Social Media in der Unternehmenskommunikation und nicht mehr nur diffus und mit einem gewissen Frustrationsstöhnen im Sinne von "Kurzatmig, anstrengend, muss das sein?" gesprochen wurde. Bezeichnend, dass dann die aus meiner Sicht beeindruckendsten Erfahrungsberichte eben nicht von generischen PRlern kamen sondern wie im Fall von Michael Buck (@WorkingforDell) aus dem Marketing. Die PRler waren die, die nach seinem Vortrag im beleidigten Ton fragten, wie das denn sein könne, dass er da nun einfach so alleine eine Social Media Strategie aufsetzt, seine Mitarbeiter schult und sie fährt. Ich fürchte, es handelt sich dabei um die gleiche Sorte Kollegen, die nach dem Bericht von Cordelia Kroß (@Shakespdaughter) über den Einsatz von z.B. wikis in der internen Kommunikation verständnislos nachfragten, wann die BASFler denn "dann mal arbeiten" würden. Was sich hier deutlich zeigte war die immer noch existierende und in den letzten Jahren sicherlich noch gewachsene Kluft zwischen denen, die das fundamental Neue an all dem, was Netzkommunikation ermöglicht, begriffen haben und produktiv einsetzen und denen, die das nicht getan haben. Es ist der Unterschied zwischen denen, die sich von Mut steuern lassen: Mut zur Beschleunigung, Mut zum Kontrollverlust, Mut zum Vertrauen in den gesunden Menschenverstand, der im Übrigen mal eben jede, aber auch jede menschliche Interaktion ob online oder offline so gut regelt, dass es keiner hanebüchenen Social Media Conducts und weihwassernden Berater braucht und denen, die in Angst leben. In Angst vor den Aufwänden, Angst davor, die bequeme Schale ihres einmal erworbenen Wissens zu verlassen, Angst davor, den wohlverdienten Afterwork-Cocktail in alerter Position der Kommentarmoderation der firmeneigenen Facebookseite verbringen zu müssen.
Die Wiki-Frage hat mich besonders geärgert, zeugt sie doch davon, dass der, der sie stellte erstens den Begriff Schwarmintelligenz maximal mit der intellektuellen Fähigkeit der niedlichen neuen Praktikantin, was das Erstellen eines Serienbriefs angeht, in Verbindung bringt und zweitens eben nicht seinen Shirky, Bruns oder gottverdammt nochmal auch den David Hasselhoff der Internet Theorie Jeff Jarvis (only big in Germany) gelesen hat. Wikis sind eben keine Zeitverschwendung: In wikis findet das statt, was Jahre zuvor in Gruppen-E-Mails aus der Hölle- ihr wisst schon, die, die an 6 Leute gehen und dann weiss keiner, wer wem schon was geantwortet hat und antwortet zu Sicherheit nochmal, nicht aber ohne vorher noch jemanden in cc zu nehmen, der bisher gar nichts mitgekriegt hat und die bereits auf 12 "Re" angewachsenen Subject-Line um ein Weiteres bereichert- gefangen war. Wissensaustausch, in Echtzeit, nur möglich aufgrund von Teilnahmeoffenheit und Transparenz.
Die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu finden, der profund und sachkundig eine Frage jedweder Art- "Wo ist das bunte Papier im Materialschrank?" bis zu "Habt ihr Ideen, wie ich in Sachfrage xy weiterkomme?" beantwortet, erhöht sich mit der Anzahl derjenigen, die diese Frage sehen. Diese Frage dann zu beantworten ist nicht "Zeitverschwendung" oder das, was Leute tun, während sie arbeiten sollten- es ist Teil ihres Jobs. Das heisst nicht, dass alle stets und ständig vor sich hin kollaborieren müssen - das konzentrierte Konzepten ist auch in Zeiten neuer Arbeitstools nicht obsolet- es heisst aber, diese Tools nicht per se als Spielerei und Zeitverschwendung betrachten zu dürfen. Nur derjenige, der aufmacht, interne und externe Ressourcen einlädt, ihm zuzuhören, kann vom Wissen, das er selbst noch nicht hat, profitieren.
In dem Rollenspiel "Gute Social Media, schlechtes Social Media" ist jetzt die Stelle gekommen, an der der Skeptiker den Finger hebt und stirnrunzelnd "Industriespionage" wispert, denn ein Wort diesen Ausmaßes kann man nur wispern, sonst steht ja gleich Daniel Craig im Türrahmen und seit der mit Rachel Weisz verheiratet ist, braucht das nun auch kein Mensch mehr. Ich stelle mir dann immer ein Unternehmen mit einem geräumigen Kellergeschoss, Menschen in weißen Kitteln, Namensschildern und Lebensmittelverbot am Arbeitsplatz- "Das ist keine neue chemische Verbindung, das ist ein Marmeladenfleck unterm Atommikroskop." vor. Und ich begreife, dass es Unternehmen gibt, die investitionsintensive Entwicklungen und das damit verbundene Wissen schützen wollen um davon zu profitieren. Ich verstehe nur nicht, was das z.B. mit einem gesperrten Facebook-Account auf den Unternehmensrechnern zu tun hat und der Weigerung selbst dorthin zu gehen, wo die Menschen sind, die man erreichen will und die im Übrigen die Konversation, die man verhindern möchte, längst führen, nur eben ohne aktive Beteiligung des Kommunikats.
Vom Ignorieren wird das Netz nicht weggehen. Und es braucht gottverdammt nochmal endlich den Mut, sich auf das, was das für professionelle Kommunikation bedeutet, einzugehen und dazu zu stehen, dass das Netz die Regeln ändert. So war für mich z.B. eine dieser Fragen ohne Antwort meine an Marco Dall´Asta zu den speziellen Anforderungen an Customer Care via Twitter: Die Sichtbarkeit von Information im Netz - ob "wahr oder unwahr" - und die darauf basierende Reputationsbeeinflussung eines Unternehmens sorgen in meiner Erfahrung dafür, dass Kundenservice via Social Web gegebenenfalls fixer und flexibler läuft als auf anderen Kanälen. Marco Dall´Asta bestritt dies ausdrücklich - es gäbe auf Twitter keine "Extrawürste" für Kunden, wer an der Hotline nicht weiter käme, täte dies auch nicht via Twitter - um in seinem Erfahrungsbericht zum Shit Storm...oder eher Windchen nach Fukushima aufzuführen, dass nach der auf Twitter erstarkten Kritik an den angeblichen Wucherpreisen der Lufthansa für Flüge nach und aus Japan ein komplett neues Pricing für diese Fälle eingeführt wurde. Social Media ändert also sehr wohl die Art, wie Unternehmen kommunikativ agieren müssen- schneller, flexibler und deutlich schlanker. Es bleibt im web 2.0 eben keine Zeit, jede Botschaft durch 12 interne Abstimmungen zu jagen und noch 4mal in Abstimmungsrunden den nächsten Facebook-Kommentar oder die Frage des Duzens im Corporate Blog zu diskutieren.
Die Herausforderung, die jemand wie Michael Buck begriffen hat ist, nicht die eigenen Regeln ins neue System pflanzen zu wollen, sondern sich der neuen Umwelt anzupassen und das, was an Fachkompetenz unbestritten auch im neuen Umfeld erhalten bleibt dort weiterhin anzuwenden. Mehr denn je braucht das Social Web schlaue Kommunikatoren vom Fach- wenn das z.B. bedeutet, komplexe Botschaften in klare Sprache zu bringen und als Übersetzer zwischen den Welten zu mitteln: Der des Produktherstellers oder des Programmierers und der der Person, die entnervt die App nicht laden kann oder den Flug nicht buchen oder den DVBT-Receiver nicht anstellen und in jedem Fall darüber twittert.
Kommunikation 2.0 heisst schnell und präzise relevante Informationen einzusammeln und weiterzugeben und sich bewusst zu sein, dass alles, was man sagt, gegen oder aber eben: Für einen verwendet werden kann, weil es eben das ist, was meine Banknachbarin bei einer Fachtagung mit noch weniger Antworten als der #kk2011 auf ihren Zettel geschrieben hatte: "Alles, was im Internet steht, ist dort für immer enthalten.".
So schlicht, so gut. Hoffen wir, dass wir uns in einem Jahr wiedersehen und (Achtung, Bullshit Bingo) mal auf Augenhöhe kommunizieren können: Aufrichtig darüber reden, was es heisst für uns, im digitalen Rattenrad zu sitzen und wie sie aussehen, die neuen Regeln, die aus dem neuen Ökosystem web 2.0 und professionellen Kommunikationskompetenzen erwachsen.
Ich würde mich freuen auf diese Antworten. Weil Ausrufezeichen- egal wie lange es dauert, bis sie da sind und egal, wie lange sie Bestand haben - die Lähmung des Fragezeichens lösen. Und nur so das Weitergehen möglich ist, das Werden und das Akzeptieren, das nichts bleibt, wie es war.

Montag, 5. September 2011

Zwölf Monate.



September



Oktober


November


Dezember


Januar



Februar



März

Link

April





Mai



Juni


Juli


August


September











Freitag, 19. August 2011

Ausser Sichtweite

Netz macht, dass du deine Bekanntschaften splittest in Virtuelle und Analoge.

Mobiles Netz katalysiert die Schnittmengenherstellung, einmal nach Irgendwem zum Kaffeetrinken in Irgendwo fragen, Schwups kriegst du Irgendwas, mindestens aber erstmal einen Kaffee in Irgendwo. Oder Kekse aus Irgendwo. Tweetup, heißt das dann, analoger Brennwertgewinn durch digitale Vernetzung.

New Year's Eve, NYC, 1965 (Kiss me, stupid)

Wir kaufen mobilen Zugang zur permanenten Verfügbarkeit und zum Verfügungstehen unserer Lifelines: Den professionellen, den emotionalen, den höheren Gewalten (wetter.com).

Wir kleben an Geräten, senken den Blick, um in so einer digitalen Erbaulichkeitskrücke von 140 Zeichen zu lesen: „Blick heben!“. Die Verarbeitung dieser Daten nimmt die Zeit in Anspruch, die wir nutzen könnten, eben dies zu tun: Den Blick zu heben und wenn schon nicht schweifen zu lassen, dann mal rüber zu wuchten, zu unserem Gegenüber. Alas poor us: Er scrollt durch seine iTunes.

Mit anderen Worten: Ich glaube, ich schaue zuviel auf Bildschirme.

Der Witz an der Mobilität und der Dynamik ist, dass wir sie beherrschen müssen, um Stabilität zu wahren: Die unserer Existenzsicherung, Beziehungen, der gottverdammten Parkkarte für dein Auto, die immer nur für ein Postleitzahlengebiet gilt und nein, es zählt nicht, dass am Samstag keine Straßenverkehrsämtliplakettenstelle Zeit für dich hat.

Um zu sichern, was ist: Monetär, Emotional, musst du dich bewegen.

Wer das bezweifelt, stand noch nie an einem Sonntag Abend auf einem Bahnsteig und sah die vielen hauptberuflichen Mischgewebsträger, wie sie die Nasen aneinanderreiben bevor sie sich einmal mehr für 5 Nächte in jeweils anderes betitelte Orte mit Stadtrecht, Bahnanschluss und fakultativ Landesregierungssitz zurückziehen. Damit A und B sich in C treffen können, müssen sie genug Geld verdienen, um Bahnfahrten und Zweitwohnsitze zu finanzieren. Weil A keinen Job in D, der gemeinsamen Heimatstadt findet und B sich gerne die Geschichte über sich selbst glauben würde, eine im Grunde genommen unabhängige, weltinteressierte und für neue Eindrücke offene, ihnen geradezu nachhungernde Person zu sein, wählt man nun Option E: Elend Wochenendbeziehung.

Das Glück in Minuten, irgendwo zwischen Trockenreinigung, Steuererklärung und Zoobesuch mit Patenkindern.Was das bringt? Ein volles Meilenkonto, einen konfusen Kopf, Erledigungen on the go, ständige Verfügbarkeitserwartung an sich selbst und Andere, kein Ankommen, nirgends.

Wenn ein mit dem großen Löffel gegessenes Leben bedeutet, sich einzulassen, bedeutet das eben auch: Nicht mehr rauskommen aus den Chosen. Oder unter Windungen. Oder dem gewunden werden. Die Hoffnung bleibt, das man so verdreht noch den Refresh-Button findet.


Mittwoch, 27. Juli 2011

Wiederentzünde mein Feuer

Keine Ahnung, ob es der momentane Countrymusikanfall meines Nachbarn von unten ist in einer Lautstärke, die auf eine wöchentlich stattfindende Line Dance Therapie schließen lässt oder der abendliche Beschäftigungszwang mit der Einkommenssteuererklärung- der zweiten meines Lebens- vermutlich ist es das sowie mein Besuch eines Take That Konzerts letzten Freitag, der diesen Blogpost triggert. Ich denke nach übers Erwachsenwerden, übers Altwerden, was das bedeutet und ob der Fakt, dass ich jetzt anfange, solche Sätze überhaupt zu schreiben darauf schließen lässt, dass es für mich sowieso längst vorbei ist mit dem süßen Vogel Colakaugummi.





Letztes Jahr im Sommer irgendwann fuhr ich mit einer Freundin an die Innenstadtperipherie Berlins, immerhin noch Tarifzone B, aber außerhalb des Stadtrings als Demarkation lebensnotwendiger Stadtbewohnerschaftsbedürfnisanstalten wie Spätverkäufen, 23 h Shops, die niemals sagen, wann die 24. Stunde ist, Programmkinos, aufgerissener Straßen, Parkbänken, auf denen sich Tagesfreizeitler jedweden Alters und Transferleistungsniveaus aufhalten, Spezialbuchhandlungen und Kaufhäuser, in denen man 22 Uhr noch Kuroswas Erstling kriegt oder die Komplettversion des Lebenswerks von Siegfried Rauch, einfach weil man Sehnsucht hat nach der zänkischen Haushaltshilfe aus "Die glückliche Familie" und Frau Burda als sie noch einer anderen reichen Familiendynastie angehörte.

Wir mussten nach Lankwitz, was rein routenplanermäßig gar nicht schlimm war, dort waren wir dank der Berliner Teilung jahrelang akademisch verhaftet gewesen, das amerikanischen Fronstadtprojekt namens Freier Universität Berlin, die prachtvolle ebenerdige Zweckbauten mit mehr Parkmöglichkeiten als Studienplätzen, gestiftet dem weltbekannten Antisemiten Henry Ford und den Dahlemer Naziwitwen vor die Tür geklotzt, hatte es möglich gemacht.

Ziel unserer Expedition war die Heimstatt eines eBay-Nutzers namens Countryballade 19ichhabdieZahlvergessen. Meine Freundin hatte ihm einen Küchenschrank abgekauft, die Art, die einem normalerweise der Vermieter stellt: Die zeitlose Schönheit, die man als mitteldichte Faserplatte kennt, weiß lackiert und halbwegs gut erhalten sollte sie für ein paar Euro nebst Selbstabholung nun Bezirk und Inhalt wechseln.

An unserem Ausflug war weniger bemerkenswert als der Nickname eben jenes Verkäufers. Noch lange nach dem erfolgreichen Stadtteilwuchten verschraubter Holzimitationen rätselten wir über den Hintergrund dieser Namenswahl.

Hatte unser Verkäufer jahrelang Jeans und Ziersporen in dem Schrank gehortet? Lederfransenjacken, deren Rücken von Strassadlern geziert waren, in denen er nachts endlos Linda Feller-Poster angesungen hatte? Und wenn, wie schmerzfrei war er um diese musikalische Vorliebe semiöffentlich beim Verkauf von Einrichtungsgegenständen ganz selbstverständlich preis zu geben?

Als ich letzten Freitag in mitten blond gesträhnter Büromädchen wie mir stand, die sich für einen Abend in ihre Jugendfantasie einer jugendlichen Affektion zu einem ihnen gänzlich unbekannten, aus Vermarktungsgründen der unterhaltungsindustriellen Verwertungslogik zur Verfügung gestellten Boys respektive Manns, der mit seinesgleichen mehr oder weniger koordiniert rhytmisch tanzt (ja, ich meine dich, Gary Barlow) zurückversetzten, kriegte ich sowas wie eine Ahnung von Countryballades Gründen.

Countryballade war schmerzfrei geworden weil Countryballade alt geworden war.

Wen kümmert es, dass alle Welt deinen nicht mehr zeitgemäßen Musikgeschmack kennt wenn alleine du ihn für zeitgemäß hältst? Weil du aufgegeben hast, dich zu interessieren, für Musik, die entstanden ist nachdem du in dem Alter warst, in dem einen noch etwas anderes interessiert als eine grundsolide Altersvorsorge und der Fälligkeitstermin der Steuererklärung. Etwas anderes als der Chromglanz des neuen Ingolstädters vor der Tür, der Geschmack einer raffiniert zubereiteten Speise oder eines Kaffees, dessen Bohnen durch Katzenmägen fermentiert werden musste, etwas anderes als der Kontostand oder die Geschicklichkeit, mit der man den eintausendundersten ganz legalen Steuertrick angewandt hat, was man natürlich sofort mit einem Glas Bordeaux beim mitteledlen Quartiersitaliener an der Ecke im Friedhof der Eigentumswohnungen feiert, aber Vorsicht, die Nomos am Handgelenk darf von der Ausgelassenheit nichts mitbekommen.

Ich war zu Countryballade geworden, das war spätestens dann klar, als ich nach einem Set neuer Lieder meine Enttäuschung über das nochnichtabgefeierthaben von "Relight my fire" oder der Originalchoreographie von "Pray" kaum noch Einhalt hatte gebieten können.

So sind sie, die alten Menschen. Sie gehen raus, und wollen nichts Neues hören.

Immerhin rächte sich meine Frühvergreisung als ich, in einer dank der katastrophalen Besucherleitung der Imtech-Arena Organquetschungsprozedur namens Transferbusschlange feststeckte und die besoffenen Trottelboyfriends der anderen Mainstreammädchen prustend "Kein zweites Duisburg" brüllten weil das ja wirklich wahnsinnig komisch ist. Wie man sich Tickets kauft, so steht man, dachte ich.

Und so sieht er eben aus. Der Hauptstrom. Da fällt mir ein, dass ich vergessen habe die Absurdität einer Anzeige für das Dockville Festival zu fotografieren, auf der einer der 10 größten Bierbrauer Deutschlands tönt, Mainstream wäre ja nur was für die Anderen.

Die Frage ist natürlich, ob es eine realistische Alternative zur Frühvergreisung gibt. Ich hatte mal einen Kollegen, der hat sich jährlich von seinem jüngeren Bruder ein Mixtape mit den größten musikalischen Erfolgen des aktuellen Jahres zusammenstellen lassen um auf dem Laufenden zu bleiben. Darüber hinaus gibt es Menschen, die diese Musik dann nicht nur hören, sondern auch versuchen so zu sprechen oder zu kleiden wie die, die diese Musik machen.

Wie oft alleine das Wort "chillig" aus dem Mund eines Generationsgenossen Udo Lindenbergs mich zwang, ein betretenes, aber nachsichtiges Lächeln ob dieser Anbiederung an vermeintlich noch zur eigenen Alterskohorte zugehörige Gruppen walten zu lassen, kann ich nicht mehr zählen.

Am Ende liegt die Kunst wahrscheinlich irgendwo zwischen dem Sich interessieren für die Gegenwart, einer amnesischen Gemütshygiene, was die Vergangenheit angeht und Gleichmut gegenüber der Zukunft in dem Maß, in dem es ein paar Stunden gesunden Nachtschlaf ermöglicht.

Oder eben im Kauf von Lederfransenjacken mit Adlermotiven. Never forget!

Montag, 25. Juli 2011

This is my blog so I can post emo shit whenever I want. Ha!

"Und die Jahre die wir brauchen bis wir uns davon erholen ziehen vorbei wie fremde Koffer auf dem Band in Charles de Gaulle."

Donnerstag, 21. Juli 2011

And you can tell everybody this is your song

"I hope you choke on your Bacardi and Coke.". Or J&B for that matter.

Montag, 18. Juli 2011

Freitag, 15. Juli 2011

Königskinder

Hochzeitsrede, erster Entwurf

Das eigentliche Versprechen der Ehe ist nicht: "Ich werde nie eine andere Person finden, mit der ich lieber zusammen sein will als mit dir." sondern: "Wenn das passiert, werde ich daraus keine Handlungen ableiten."

Ergänzung: Die individuelle Abwesenheit von Happy Ends ist nicht mit ihrer grundsätzlichen Unmöglichkeit gleichzusetzen.

Mittwoch, 13. Juli 2011

Dienstag, 12. Juli 2011

Ausser Sichtweite

Netz macht, dass du deine Bekanntschaften splittest in Virtuelle und Analoge.

Mobiles Netz katalysiert die Schnittmengenherstellung, einmal nach Irgendwem zum Kaffeetrinken in Irgendwo fragen, Schwups kriegst du Irgendwas, mindestens aber erstmal einen Kaffee in Irgendwo. Oder Kekse aus Irgendwo. Tweetup, heißt das dann, analoger Brennwertgewinn durch digitale Vernetzung.

New Year's Eve, NYC, 1965 (Kiss me, stupid)

Wir kaufen mobilen Zugang zur permanenten Verfügbarkeit und zum Verfügungstehen unserer Lifelines: Den professionellen, den emotionalen, den höheren Gewalten (wetter.com).

Wir kleben an Geräten, senken den Blick, um in so einer digitalen Erbaulichkeitskrücke von 140 Zeichen zu lesen: „Blick heben!“. Die Verarbeitung dieser Daten nimmt die Zeit in Anspruch, die wir nutzen könnten, eben dies zu tun: Den Blick zu heben und wenn schon nicht schweifen zu lassen, dann mal rüber zu wuchten, zu unserem Gegenüber. Alas poor us: Er scrollt durch seine iTunes.

Mit anderen Worten: Ich glaube, ich schaue zuviel auf Bildschirme.

Der Witz an der Mobilität und der Dynamik ist, dass wir sie beherrschen müssen, um Stabilität zu wahren: Die unserer Existenzsicherung, Beziehungen, der gottverdammten Parkkarte für dein Auto, die immer nur für ein Postleitzahlengebiet gilt und nein, es zählt nicht, dass am Samstag keine Straßenverkehrsämtliplakettenstelle Zeit für dich hat.

Um zu sichern, was ist: Monetär, Emotional, musst du dich bewegen.

Wer das bezweifelt, stand noch nie an einem Sonntag Abend auf einem Bahnsteig und sah die vielen hauptberuflichen Mischgewebsträger, wie sie die Nasen aneinanderreiben bevor sie sich einmal mehr für 5 Nächte in jeweils anderes betitelte Orte mit Stadtrecht, Bahnanschluss und fakultativ Landesregierungssitz zurückziehen. Damit A und B sich in C treffen können, müssen sie genug Geld verdienen, um Bahnfahrten und Zweitwohnsitze zu finanzieren. Weil A keinen Job in D, der gemeinsamen Heimatstadt findet und B sich gerne die Geschichte über sich selbst glauben würde, eine im Grunde genommen unabhängige, weltinteressierte und für neue Eindrücke offene, ihnen geradezu nachhungernde Person zu sein, wählt man nun Option E: Elend Wochenendbeziehung.

Das Glück in Minuten, irgendwo zwischen Trockenreinigung, Steuererklärung und Zoobesuch mit Patenkindern.Was das bringt? Ein volles Meilenkonto, einen konfusen Kopf, Erledigungen on the go, ständige Verfügbarkeitserwartung an sich selbst und Andere, kein Ankommen, nirgends.

Wenn ein mit dem großen Löffel gegessenes Leben bedeutet, sich einzulassen, bedeutet das eben auch: Nicht mehr rauskommen aus den Chosen. Oder unter Windungen. Oder dem gewunden werden. Die Hoffnung bleibt, das man so verdreht noch den Refresh-Button findet.


Montag, 11. Juli 2011

Something old, something new

Eine der neuerdings immer mal wieder in meinem Bloggesichtsfeld auftauchenden Irrungen ist, dass Nonkonformismus, Angstfreiheit, Respektlosigkeit oder die Annahme von Existenzspielarten jenseits der heterosexuellen Festverpartnerung ein Attribut der Jugend sind. Ich glaube an das Gegenteil: Ich glaube, mit dem Alter fallen ja erst die Hemmungen. Die Tragik liegt darin, dass, wenn es soweit ist, es keiner richtig genießen kann weil eben innere und äußere Verfasstheit der Lebensjahre eklatant voneinander abweichen. Wer will mutige Best Ager sehen?


Dabei ist diese "Ich fühl mich anders alt als ich bin"- Problematik kein Privileg des "Ich bin alt und fühl mich jung": So kenne ich aus Mitbürgergesprächen, u.a. mit meinem Spiegelbild, das leichte Unwohlsein, dass sich einstellt, wenn man zwar wie 28 aussieht, aber innerlich an der Grenze zur 75 kratzt. Diese nagende Stimme, die dich fragt, warum du jetzt „Goodbye Deutschland“ guckst und nicht in einer ehemaligen Fabrikhalle zu elektronischer Musik in gesundheitsgefährdender Lautstärke Körperflüssigkeiten mit bevorzugt Nichtmuttersprachlern austauschst, während dir links ein als Eichhörnchen verkleideter Körperjuwelier den Innenschenkel oberflächenpierct und rechts die Suspension eingezogen wird für deine Performance, die du nebenbei planst: Tagsüber reist du selbstverständlich zu Gleichberechtigungs-Barcamps, baust Schulen in Asien oder gehst auf einen 16 wöchigen Wandertrip durch Kolumbien ohne ein Wort Spanisch weil dein Lächeln reicht, eine Entführung zu unterbinden, selbstverständlich nur, bis der Studienplatz Medizin in Harvard frei wird und du die Aidskur findest.



Der Witz ist, dass die Gelassenheit, die du bräuchtest, das Jungsein nicht zu fürchten sondern einfach nur zu genießen mit all den schwachsinnigen Aktionen, all der sinnlos investierten Energie, dem Hedonismus, dass die erst in dem Alter kommt, in dem du damit, mit Gelassenheit und Angstfreiheit ob der Konsequenzen der erfüllten Bedürfnisse, Schaden anrichtest.



Oder, wie es einer weiß, der es wissen muss, ausdrückt: "Die Autos, die nur gut an jungen Menschen aussehen, kannst du dir erst leisten, wenn du alt bist." Ganz zu schweigen von drohenden Bandscheibenvorfällen beim Einstieg in einen Roadster. Der Cayenne ist doch nichts anderes als die Antwort Zuffhausens auf das Bedürfnis alter Menschen, in einem jungen Auto zu sitzen und es v.a. auch wieder verlassen zu können ohne sich einer Massage (nicht mal Thai) unterziehen zu müssen.


Hat das Handeln nun aber Konsequenzen, steht mehr auf dem Spiel und geht, dank dem im Alter erworbenen Hang zum I dont give a fuck mit grundsätzlichen Veränderungen an Familienstand, Wohnort, Tätowierungsgrad einher, so wird dies häufig mit dem Begriff des gescheiterten Lebensentwurfs in Zusammenhang gebracht. Das Wort vom "Entwurf" wird immer erst dann benutzt, wenn das Scheitern bereits vorbei ist, das heißt, vorher war es kein Entwurf sondern Dogma.


Es scheint, als müsse mit dem Begriff des "Entwurfs" begrifflich retrospektiv die Welt gerade gerückt und auf Schienen für die nächste Testfahrt gesetzt werden: Sorry, war nicht so gemeint, kann ja mal vorkommen, trial and error, das Dogma zu haben war aber prinzipiell korrekt.


Da das aber das Prinzip Leben ist, in Ungewissheit aller Variablen das zu wählen, was plausibel, bequem und zumindest nicht schmerzverursachend erscheint, aber eben nicht in Gewissheit aller möglichen Alternativen erfolgen kann und daher immer nur Entwurf oder eine mögliche Alternative zu vielen anderen sein muss, kann man den „Entwurf“ auch weglassen. Es ist nicht der Entwurf gescheitert, es ist eine Versuchsanordnung abgedampft. Weil Leben unkontrollierbar ist. Und ein Enwurf eben genau in Annahme der Kenntnis möglicher Variablen erfolgt.


Genau genommen ist es ja nicht so, dass wir losgehen und sagen, wir entwerfen jetzt mal ein Leben. Im Regelfall tun wirs einfach, wir leben so vor uns hin. Machen das, was sich richtig anfühlt oder mindestens bequem und allermindestens nicht wehtut, es sei denn, Masochismus herrscht.


Womit wir wahrscheinlich doch der Begründung für junge Autos an alten Männern auf die Schliche gekommen wären: Es sind die mangelnden Stoßdämpfer, die zwei Tage Krummrücken nach einer Fahrt durch die Innenstadt.


Was macht eigentlich Ulf Porschardt?


Dienstag, 28. Juni 2011

Durchbrüche

In Zürich Besuch aus Berlin zu treffen, ist ein wenig so, als schaute man mit seinen Eltern einen Film, in dem geknutscht wird: Ein bißchen unkomfortabel, ein bißchen aufjaulenswert, wie sich Welten ineinander verschieben, die nichts miteinander zu tun haben sollten. Ob Libido vs. im Grundsatz stets als asexuell anzunehmende Blutsverwandtschaft oder die stadtgewordene AUDI-Werbung mit Lohnarbeitsprofitsprimat namens Zürich vs. das Übergriffigkeitsdorf mit Metropolansprüchen und einer Einstellung, die beim Weg nicht nach dem Ziel fragt, sondern ob und wie es unterwegs vielleicht erstmal ein Stützbier hat namens Berlin: Das sind Systemwidersprüche, die nicht auflösbar sind ohne die Hirnrinde gepökelt zu kriegen.

So berichtet meine Berliner Freundin T., sie habe bei Rumfahren mit ihren Schweizer Gastgebern immer wieder gefragt, was es mit den Lampen, die quer über die Straße hängen, auf sich habe. Ob das Zürcher Spezialität sei. Ob das nicht gefährlich sei bei Wind und Wetter. Seit wann es das gäbe. Sie fragt viele Fragen.
Ihre Gastgeber antworten: "Weihnachten hängen wir noch andere Lampen auf.".

Sie nickt interessiert und bemerkt dann, dass das aber ihre Frage nicht beantwortet. Daraufhin Schweigen und eine Stimmung im Auto als hätte sie gerade ausgiebig Körpergase freigesetzt. Das Gleiche wenig später, als man Rast macht.

Man geht zu viert in ein Lokal, bestellt. T. ist nicht hungrig und nicht durstig, möchte aber nachvollziehbarerweise nur ungern 30 Minuten alleine auf der stillen Rückbank im Auto verweilen. Sie setzt sich also zu den anderen, als der Kellner kommt, gibt sie aber keine Bestellung auf sondern sagt: "Für mich nichts. Danke.". Kurz nachdem der Kellner außer Hörweite ist, kriegt sie gesagt: "So etwas macht man hier nicht. Wir bestellen, auch wenn wir keinen Hunger haben.". T. s Verwirrung wächst.

Nun sitzen wir abends bei einem ihr von mir aufgeschwatzten Süßmost (ich zwinge meinen Besuch dazu, die lokalen Spezialitäten zu testen um eventuelle Toxik zu eruieren, sie sind quasi meine Vorkoster, das einzige, was mich mit Royalität verbindet. Dass und die sich aus diesem Umstand ergebende Risikohaftigkeit des vorzeitigen Verlusts der 2,3 Leute, die freiwillig mit dir Süßmost trinken gehen, dem Selbsterhaltungstrieb geopfert, siehe Prince Charles wahrscheinlich existierender Privatfriedhof ehemaliger Polobuddies) und sie fragt mich, was es mit diesen Dingen auf sich habe.

"Ist das eine nationale Unentspanntheit oder war das eine Privatneurose heute?".

Ich überlege und kann keine Antwort geben. Genau dies ist die Herausforderung am Leben als Expat: Du weißt nie, ob du gerade im Glauben einen Kirschbananesaft zu bestellen, sagen wir mal, Wilhelm Tell der Unzucht mit Ziegen bezichtigt hast und ob, wenn dem so ist, genau dies hier am Ort eine Beleidigung ist oder eine Lobpreisung. Und wie es im nächsten Kreis, geschweige denn Kanton aussieht, das steht auf einem ganz anderen Blatt.

T. seufzt. Wir sprechen darüber, was sonst noch war auf ihrem Ausflug. Sie freut sich über den Ortsnamen "Küsnacht" und nennt ihn "Küss-Nacht". Sie lobt das saubere Wasser und die Absenz von Lebensmittelskandalen. T. ist Veganerin, wird ihr Kind wahrscheinlich auch so erziehen, geht gegen Atomkraftwerke auf die Straße, hat mit Schulmedizin nicht viel am Hut. Bevor T. weiter Sternchen kriegt, wenn sie über Küss-Nacht fabuliert, zeige ich ihr eine interessante Zeitungsanzeige.


Wir trinken aus. Ich bringe sie zum Tram, die wir beide "die Tram" nennen. T. sagt: "Wie du das machst, dass du hier alles verstehst - Krass.". Was sie nicht verstanden hat, ist ja, dass mein geheimer Plan nicht ist, alles zu verstehen, sondern alle anderen dazu zu bringen, mich zu verstehen. Ein Unterfangen von der Erfolgsaussicht eines Mondflugs in einem Bobbycar.
Immerhin: Diese Woche im Büro das erste Mal einen Satz gehört, der genauso auch in Berlin hätte fallen können: "Du bist so blöd manchmal.". Ich habe mich sehr darüber gefreut, bedeutet es doch: Meine Superkraft des Aufdienervenfallens scheint Landes- und Mentalitätsgrenzen zu sprengen! Ich als gemeinsamer Nervbolzen als Bindeglied zwischen EU und dem notorischen Einzelentscheider Schweiz: Jetzt muss ich nur noch einen Weg finden, das zu monetarisieren.

Sonntag, 19. Juni 2011

Mixed Messages

Was ich relativ schnell gelernt habe in meiner Zeit hier ist der Fakt, dass ein Umzug in die Schweiz nicht ein Umzug in ein neues Land bedeutet sondern in ungefähr 448, mindestens so viele wie Kantone, ich vermute aber im Grunde genommen so viele wie Berggipfel und zugehörige Täler. Schnell habe ich gemerkt, dass, was für Berner völlig nachvollziehbar und verständlich ist, einem Zürcher vorkommt wie das Ritual Wilder. Und umgekehrt.
So sagt mir Arbeitskollege P. in Zürich: "Was du auf keinen Fall machen darfst, ist zu sagen "Ich kriege ein Bier." wenn du ein Bier bestellen möchtest. Das ist in der Schweiz extrem unhöflich. Das ist ein Befehlston.". Weil dieser lexikalischen Sensibilität zu widersprechen die Energie benötigt, die ich brauche, sie mir zu merken um Ausschaffung oder Bierausgabenverweigerung (mithin gleichermassen schlimme Konsequenzen für eine Deutsche) zu entgehen, speichere ich die Information in meinem inneren Ordner "Odd, unvermeidbar, deal with it." ab. Kurz darauf bin ich in Bern, wo ich etwas finde, was in meinem Glaubenssystem das ist, was Katholiken der Jesus auf dem Toastbrot oder eine Marienerscheinung auf der Autobahntoilette auf Lourdeswallfahrt ist: Im Gewerbegebiet, in dem der Bürostandort liegt, entdecke ich einen benachbarten Eiscreme-Werksverkauf. Dank der Findigkeit eines weiteren, eben Berner Arbeitskollegen, bade ich alsbald die entzückten Augen in Krankenhausmengen Qualitätseiscreme zu für Schweizer Verhältnissen Dumpingpreisen (das heisst: Für Deutschland "normal").
Meine Ausbeute (bis zum geplanten Erwerb eines Family Frost-Wagens gebe ich mich bescheiden und räume erstmal im Milliliter-Bereich ab) an der Kasse zahlend, hören meine erstaunten Ohren den Satz "Und ich krieg noch eine Tüte dazu, bitte.". Zumindest vermute ich dies, der Mensch spricht schließlich Dialekt. Aber ich bin mir relativ sicher. Als ich zurück in Zürich mein Erstaunen über diesen doch so offensichtlichen Sprachgebrauchsclash der Kantone kundtue, wird mit großer Skepsis auf mein vermutet marginales Verständnis der Dialekte hingewiesen. Auf gut Deutsch: Da hätte ich was falsch verstanden. Akustisch.
Und selbst, wenn ich richtig verstanden hätte: Mein 1000m Lauf durch alle Fettnäpfchen zwischen Locarno und Basel soll längst nicht beendet sein, zumindest macht mir dies eben jener Berner Kollege deutlich, als wir den Eisladen verlassen.
Ich hatte mich, wie seit Wochen und, wenn ich ganz ehrlich bin, mein ganzes Leben lang, von der Verkäuferin mit einem typisch berlinerischen "Tschüssie!" (wichtig ist, dass "T" eher stumm zu halten und die Betonung aufs "i" zu legen, das entspricht urbaner Dynamik, die es braucht, um die Bierflaschen aus dem Späti in den Park zu kriegen bevor die Asis aus Tarifzone C wieder alle guten Plätze besetzt haben) verabschiedet. Vertraulich, so wie man jemanden im Nachhinein sagt, dass er seit Beginn der Firmenpräsentation den Hosenstall offen hatte, raunt mit der Kollege zu: "Also, Tschüss...das sagt man hier nur, wenn man sich duzt. Das kannst du der älteren Dame gerade ja nicht unterstellen.". Erneut öffne ich den oben beschrieben Oddness-Ordner und begrüße innerlich meine mit diesem Hinweis erworbenen 1000 neuen Schweizer Duzfreunde aus Kreisämtern, Supermärkten und Arztpraxen.
Als ich bei nächster Gelegenheit in Zürich nach dem Mittagessen im Arbeitskollegenkreis mir ein eckiges "Uff Wiederluege" abquetsche, dass sich aus meinem Mund eher anhört wie ein Hilfsgesuch an die Ghanaische Botschaft, eine Plastikfabrik mit meinem Namen zu eröffnen, schauen mich meine Züricher Kollegen erstaunt an. Ich erkläre ihnen das "Tschüssie"-Problem. Bemüht, mein integratives Potenzial zu zeigen. Und stoße auf Kopfschütteln: "Also, Tschüssie, das ist doch kein Problem. Das kannst du hier sagen, ganz normal, wie Auf Wiedersehen. Und überhaupt: Du solltest beim Hochdeutsch bleiben."
Ich kapituliere. Und konstatiere: Die erfolgreiche Domestikation durch die Schweiz erfordert zügigen und konsequenten Entscheid für einen Kanton. Oder einen Berg. Wenn das so weitergeht, wähle ich dafür den Berg mit dem Zoo hier am Platz. Und spreche nur noch Affensprache. Da kann sicher weniger schief gehen als bisher.

Donnerstag, 2. Juni 2011

Alles muss raus.

Der Vorteil meiner ersten Festanstellung ist, damit endlich ins Privileg einer Krankenversicherung ganz und allein auf meinen Namen zu kommen. Ich sage nicht, dass es an die Grenzen mentaler Belastbarkeit geht, mit 28 noch jede seiner Arztrechnungen an seinen Vater zu schicken, der somit stetig aber gewiss eine profundere Kenntnis deiner Organ- und Zahnkondition erhält als du selbst. Ich sage nur, dass es irgendwie auch Freude macht, seinem Arzt keine Fantasiebezeichnungen mehr für Verschreibungen und Untersuchungen mehr in den Block diktieren zu müssen (ich sage nur „hormonelle Anpassung“, und ich weiss, es werden Frauen wissend nicken) um sich einen Hauch dessen zu sichern, was andere mit 18 erhalten: Das Recht auf Privatsphäre.

Jedenfalls war es mir ein innerer Vorbeimarsch meine brandneue, marineblaue Versichertenkarte der munter auf mich einplaudernden Sprechstundenhilfe über den Tresen zu schieben, als ich letzte Woche nach 3 Tagen Bauchkrämpfen entschieden hatte, es sei Zeit für eine zweite Meinung nach Freund Google. Es ist, nebenbei gemerkt, schon an und für sich nicht wirklich eine gute Idee seine Symptome einer Suchmaschine anzuvertrauen, die einem dann, dem Schwarm sei Dank, mit mehr als 5000 möglichen, in Herkunft diversen, aber stets relativ wahrscheinlich tödlich verlaufenden Krankheiten diagnostiziert. Kommt der Bonuslevel „grassierender Virus in deiner Nähe“ gekreuzt mit der Hysteriequadratierung „deutsche Medienberichterstattung“ dazu, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Helmut Markworts elektronischer Friedhof per Targeting anfragt, ob du nicht mal ein schönes Plätzchen neben Jopi Heesters reservieren möchtest.

Der Arzt sieht mich an, ich schildere ihm meine Vorgeschichte zum Thema „Bauchweh“, die das Entfernen der Galle mit Anfang 20 (eine schöne Kombination aus genetischer Prädisposition und der Unfähigkeit, Stress als etwas anderes als Unfähigkeit zu verstehen, was in mehr Stress mündet, ein perpetuum mobile der psychischen Selbstkasteiung) und eine endoskopische Entfernung neuerlich gebildeter Steine im letzten Sommer umfasst. Weil ich keine Lust mehr habe, noch eine Notaufnahme kennenzulernen und sowieso wahrscheinlich nichts mit dem Wartezimmer des Vivantes Friedrichshain, wo zur Ablenkung gramgebeugter Patienten nicht die BUNTE sondern Broschüren über tödlich verlaufende Motorradunfälle ausliegen (ob die Motorradunfallbroschürenbranche jemals gedacht hat: „Hach, Kranke Menschen! Sie gehen sicherlich gerne Risiken ein wie auf 2 Rädern ungeschützt mit Motorenkraft sich den Launen von Menschen geschützt in Fahrzeugkarosserien auszusetzen! Streuverlust ade!“) mithalten kann, gehe ich jetzt lieber eher zum Arzt als auf den Status „nicht mehr aufrecht stehen können“ zu warten.

Der Arzt nickt verständnisvoll. Dann meint er: „Ich werde gleich einen Schnelltest mit ihrem Blut machen. Da sehen wir, wie sich die weissen Blutkörperchen verhalten und ob das alles im Rahmen ist.“. Ich nicke und freue mich, so schnell Gewissheit zu kriegen. Der Arzt sagt: „Ich kann ihnen in 5 Minuten Bescheid geben.“ Ich nicke nochmal, halte mit einer Hand den Bauch und mit der anderen einen ehrlich gemeinten Daumen Hoch-Daumen hoch. Er fügt hinzu „Wissen Sie: Dieser Test...damit mache ich gar keine Gewinnmarge. Es ist wirklich so, dass ich daran fast gar nichts verdiene, so aufwändig ist das. Aber ich machs eben trotzdem.“. Ich nicke automatisch. Innerlich denke ich, dass das das erste Mal ist, dass ich einen Arzt das Wort „Gewinnmarge“ hab sagen hören. Was kommt denn als nächstes? Preisschilder an meinen Organen? Sehe vor meinem inneren Auge Schilder in der Praxis „Angebote der Woche: Lebertest.“, „Im Dutzend Billiger: Einläufe: 500 CHF, 200 CHF Selbstbehalt“.

Es ist nicht so, dass sowas dir nur in Zürich passieren kann. Es ist nur so, dass es mir gerade nur in Zürich passiert ist.

Genauso, wie ich nur hier ständig höre und lese „Alles richtig gemacht.“, die schulterklopfende Selbstvergewisserung von Deutschen gegenüber Deutschen, die sich gegenseitig gratulieren zu Wochenendreisen im Tessin oder „billig zu schießender“ Heimelektronik hinter der Grenze. Ich denke: Das Betonen des Richtigmachens trägt die Verteidigung in sich. Wogegen in aller Welt denn nur? Wer oder was hat denn jemals unterstellt, was „falsch“ gemacht zu haben? Und impliziert das Betonen, man selbst mache es „richtig“ eben alle anderen machten was „falsch“? Ist eine Existenz, die ihre Güte nicht an Nettogehalt und der Menge und dem Alter erworbener Waren misst, eine „Falsche“? In wessen Buch denn? Und muss das das Buch aller anderen sein? Und ist andererseits Leben überhaupt was anderes als das Abhaken von Listen in einem Buch, von dem man bestenfalls ein paar Seiten selbst schreibt während man den Rest per Elternhaus geliefert kriegt? Und soll man deswegen gleich ganz aufhören, die Bücher wegschmeissen zu wollen? Und wie und wann hat diese Metapher aufgehört, stringent zu sein?

Die Nichtvoraussetzungsfähigkeit eigener Werte, die blitzt mich hier bisweilen aus so mancher Ecke an. Sie beginnt da, wo eine Mitbewohnerin das streifenfreie Reinigen von Zahnputzbechern (und zwar der sämtlicher Wohnungsbewohner) als Teil des wöchentlichen „Putzämtlis“ zur Bedingung der Zuschreibung von Zurechnungs- und Mitwohnfähigkeit macht. Diese Abweichung sich ab und an bewusst zu machen, bewusst gemacht zu kriegen: Das ist der Kern der Fremdheit.

Aus unterhaltungstechnischer Sicht muss ich sagen, ich hätte einfach mit den Einläufen im Dutzend billiger aufhören sollen.



Sonntag, 15. Mai 2011

Emulating Geri Weibel

Nichts erweist sich für einen Deutschen neu in Zürich praktischer als Schmerzfreiheit kommunikative Missverständnisse und eventuell schamesrotinduzierender Situationen betreffend, geschult in jahrelangen Großstadtaufenthalten. So kann ich die Bestrebungen des sehr sympathischen Abendeinladenden Paares, die Fensterteile ihrer Flurtür, ein schönes Jugendstilmotiv, mit Sichtfolie abzukleben um den Blick auf frisch gesäuberte, aber eventuell nackte Körper beim Durchqueren der Wohnung zu verwehren, nicht so recht nachvollziehen. Wo ich herkomme, herrscht das Motto: Wer guckt, ist selber Schuld. Man trägt die Verantwortung für das, was man sieht. Saures Aufstoßen, weil der Typ neben dir im U-Bahnhof seine nässende Beinwunde mit einer Blumenampel dekoriert bevor er die BSR- Eimer um Pfandflaschen erleichtert und beherzt in den Müll greift? Warum hast du hingeschaut!? Schamlosigkeit siegt. Vom Überwinden der Fremdscham zum Vergessen der Eigenen ist es nicht weit, im Zweifel hilft ein gesunder Pragmatismus. Ist es ein bisschen peinlich, wenn du in der ersten Woche in deiner neuen WG nur in Unterwäsche den Kaffee kochend von der Freundin des neuen Mitbewohners in ein Kennenlern-Gespräch verwickelt wirst oder die Schwester der neuen Mitbewohnerin auf einen kurzen Schwatz reinkommt weil die herzerfrischende Schweizer Angewohnheit, Wohnungstüren nicht abzuschließen wenn man zu Hause ist, trotz Klinke außen, herrscht? Entscheidend ist doch nur, nicht eine Baumwollruine zu tragen. Oder wenn, dann mit Stolz.

Ist es ein bisschen peinlich wenn man auf einem Apéro (after work-Stehumtrunk) sagt:
"Ich kann sicherlich noch viel lernen. Also, ihr müsst mich noch einführen." und eine Antwort kriegt, verdruckst, die darin gipfelt, dass das Gegenüber flankiert von eindeutiger Geste sagt: "Bei uns heisst jemanden einzuführen, jemanden einen Einlauf zu geben."? Wohl kaum peinlicher als auf ein freundliches "Gruezi" mit einem beherzten "Nachtie" zu antworten.
Mein erklärtes Ziel ist es, solange unbeschämt zu sein, bis alle anderen auch unbeschämt sind. Pionierin der Schmerzfreiheit in allen europäischen Währungsgebieten, so wird man mich nennen.


Samstag, 7. Mai 2011

The pursuit of Züriness

Dass ich nun wirklich nicht mehr in Berlin bin sondern in Zürich, dass habe ich vorhin festgestellt: Ein Paar geht am Ufer eines Flusses spazieren, der, bis auf seine verdächtige Klarheit und Fließgeschwindigkeit in der Form auch nicht zwingend nicht durch märkischen Sand fließen könnte. Ich lasse sie vorbei, weil mich das Hecheln ihres asthmatischen Foxterriers im Nacken irritiert. Der Mann bedankt sich, seine Frau lutscht ungeührt an einem Kirschlolli.

Ungefähr 20 Meter weiter den Fluß hinab, an einer graffitibunten Unterführung, höre ich vor mir ein Jauchzen. Das Gesicht zum Geräusch ist ein vielleicht 11jähriges Mädchen. Ihr Entzückenslaut galt nachvollziehbarerweise dem kleinen Hund und sie fragt höflich, ob sie ihn streicheln dürfe. Sein Besitzer darauf: „Aber natürlich. Flocki ist sein Name.“. Darauf das Mädchen: „Ach, wie herzig.“. Dann bedankt sie sich und geht weiter.

In Berlin hätte sich die Situation wie folgt abgespielt: Die Unterführung hätte ungefähr gleich ausgesehen, wenn auch der Weg dahin zugemüllt. Das Mädchen hätte auch gejauchzt, vielleicht sogar noch gefragt, ob sie mal den Hund anfassen dürfe. Dann aber wäre folgendes passiert: a) der Hund hätte ihr Gesicht gefressen und sich somit über den Klassiker „Hausaufgaben als Mageninhalt“ hinausentwickelt, b) der Besitzer hätte gesagt „Dit lässte mal schön bleiben, Frolleinchen.“ c) (am wahrscheinlichsten) alle Anwesenden wären von einem riesigen Wahlkampftraktor in Form eines Damenschuhs, gefahren von Klaus Wowereit, niedergemäht worden. Ich übertreibe vielleicht ein bisschen. Es wäre eventuell nur ein Quadbike gewesen, das olle Klaus gefahren hätte.

Mein Einstieg, in puncto "Szenisch gelungen" vom Voldermort deutschsprachiger Aufschreiber namens Wolf Schneider wahrscheinlich zum Hinternabwischen benutzt, wobei er´s ja dafür erst mal hätte ausdrücken müssen, dieses Internet, ist eine Anekdote zum Erkennen dessen, was mir im Vorfeld meines Umzugs als unheimliche Dichotomie Zürich-Berlin angekündigt wurde, die es gemäß einem meiner legendären Schnellurteile nach knapp einer Woche in meiner Erfahrung gibt, aber auch nicht gibt. Die es manchmal nur gibt als Koketterie, als Spiel mit dem Ultimativziel des Distinktionsgewinns.

Das Spiel geht in beide Richtungen: So beschreiben in meinen ersten Tagen hier meine neuen Kollegen immer wieder gewisse Unterschiede und Eigenheiten, auf die es zu achten gelte. Ich solle auch nicht versuchen, Schwizerdütsch zu sprechen. Ich höre letzteren Hinweis so häufig, dass mir klar wird: Diese Menschen müssen gelitten haben. Jahrelange, tausendfache Mimikry-Schweizer in Einzelhandelsschlangen, beim Tanken, auf dem Amt, am Kaffeeautomaten in der Cafeteria! Ich bin über den Hinweis auch halbwegs überrascht, weil es mir bis dato gar nicht in den Sinn gekommen war, das mit dem Schwizerdütsch auch nur zu versuchen. Andererseits kann ich beim Nachdenken über den Fall andersherum: Ich träfe auf einen Ausländer in Deutschland und er versuchte nach ein paar Tagen Deutsch mit mir zu sprechen- keine entsprechende Abwehrreaktion feststellen. Es wäre mir schlichtweg egal, was wir sprächen, solange wir uns verständen. So halbwegs. Mit Händen und Füßen.

Ich denke weiter nach über die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten und die gegenseitigen Abgrenzungsäußerungen. Merke, dass für mich klar war, solange ich Bahnhof, Post, Kreisamt, Arbeitsbeginn verstehe, bin ich auf vertrautem Terrain. Merke, wie selbstverständlich ich das Verstehen der Sprache als funktionierende Basis eines Umzugs in dem für meine Verhältnisse gerade richtigen Anteil von Exotismus gewürzten neuen Ort meiner Eskapaden um Eiscreme und andere Lebensnotwendigkeiten gesehen habe. Wage die Vermutung, das Thematisieren der Eigenheiten ist die größte Eigenheit der Schweizer.

Stelle fest, dass es das gibt, was immer wieder als „unglaubliche Lebensqualität“ in der Schweiz beschrieben wurde: Höflichkeit, Dezenz, eine Stadt ohne Müll, Scherben, Hundehaufen in den Parks. Eine Stadt, die sich noch fremd anhört, ein bißchen wie Dialoge in Lise Gast-Büchern. Was nicht schlimm ist, die Welt muss nicht immer Jörg Fauser sein.


Stelle aber auch fest, bleibe dabei, dass es Universelles gibt, was nicht Weniger ist als das Streben nach Glück. Dass dies in Parametern läuft, die kulturell oder von Linien auf einer Karte abhängig sind: Geschenkt.

Das Erstehen eines 70er Jahre Occasionsvelos des Zürichers ist gleich die Markierung eines gottverdammten Fahrradwegs in Mexiko, einem der Länder mit der höchsten Wahrscheinlichkeit auf dem Rad überfahren zu werden, wobei dort Fortbewegungsmittel und Einkommen korrellieren und ein Rad sich nicht über die Schmalheit seine Reifen oder seinen "Vintage"-Appeal profiliert sondern seine schiere Existenz. Glück hat unterschiedliche Farben, Geschmäcker, Formen. Alle suchen´s. Alle treten sich beim Suchen danach dann und wann auf die Füße. Und alle wollen glauben, sie seien dabei einzigartig.

Dabei weiss jeder, dass das Glück nur in einem roten Damenpump, getragen von einem Hund namens Flocki daher kommt. Der in Esperanto bellt.

P.S. Unterschied:

Überflüssig zu sagen, wie ich die ersten Tage unterm Wasserhahn hing weil ich die Funktionalität der Duschumschalte nicht kapierte: Die Wasserhähne haben hier eine Vorhaut.






Samstag, 23. April 2011

Altersvolontariat oder: High Tea in Berlin

Die Jovialität, mit der Heinz Hormann die Hand des dalmatischen Maitres schüttelt, reserviert er sonst für mallorquinische Hoteliers, deren 2 Sterne Etablissements er beflissen nach Staubmäusen auf dem Presspappe-Kleiderschrank absucht.

Wir befinden uns beim High Tea im Kempinski Bristol in der Fasanenstraße Ecke Kurfürstendamm, ein Ort, der mich anzieht seitdem ich weiß, dass die knorkeste unter den deutschen Trivialfernsehproduzentenlegenden Wolfgang Rademann seine in Plastiktüten mitgeführten Knoblauchvorräte am liebsten dort unterbringt wann immer er Geschäfte in Berlin zu tätigen hat. Worunter unter anderem einst, in einem Land vor meiner Zeit, das Casten der großartigen Heide Keller als Chefstewardess Beatrice für die beste aller Serien, die auf einem Kreuzfahrtschiff spielen, fiel. Wenn ich meine Klatschzeitschriftenkenntnis korrekt zusammenkriege, war das nach einer Vorstellung im Theater am Kurfürstendamm (wo ich einst eine ganz fürchterliche Sommernachtstraum-Inszenierung von Katharina Thalbach sah). Ein Auftritt in einem Curth Flatow „Tür auf, Tür zu“-Stück, schon war Heides Karriere als bestens ausgeleuchtete Freundlichkeitsraditatorin an den schönsten Stränden der Welt gebongt. Ganz klar, dass diese Geschichte in mir nachhallt, denn an-eine-Reling-gelehnt-Sätze-Aufsagen-und-dabei-fürs-ZDF-gefilmt-werden ist ein Job wie geschaffen für mich: Dem Kapitän die Familienverwicklungen der aktuellen Reisegruppe mitteilen, Romantikbedürftige einander zuführen, nebenbei den bei allen Winden und Wettern in Bermuda-Shorts auftauchenden Herzensbrecher von Schiffsarzt, der sämtliche Verrentungsregelzeiten ad absurdum führt, bedeutungsschwer anstarren? Das Ganze in Uniformen, die einem Entscheidungen innerhalb der Escada-Bestände der Garderobiere abnehmen und mit einem so soften Licht, das Kosten für unvermeidbare Nasolobialfaltenunterspritzung zunächst in das Anlegen eines ausgiebigen Sektkellers gesteckt werden können: I´m so in.


Ein schüchterner, betont routiniert-angelegter Blick in die Karte – darüber hinweg täuschen sollend, dass der heimwärts getrunkene Darjeeling gewöhnlich aus Lord Nelsons Beständen stammt – offenbart den Preis für ein simples Club Sandwich mit Fritten* mit 17,50 Euro als höher als die im Vorfeld von mir im Netz recherchierte High Tea Preislage von 16,00 Euro. Wir können das nicht glauben, erst recht nicht als wir erst den Tee kriegen und dann eine Etagère mit 3 Glasstockwerken purer Köstlichkeit: Sandwiches (Räucherlachs! Käse! Nicht aus Dosen.), hausgebackene Scones, Clotted Cream und Marmalate, dreierlei Kekse, Minitörtchen mit Früchten und hausgemachten Pralinen, alles von hervorragender Güte. Als Ostdeutsche sind meine Lieblingsgeschmacksrichtungen traditionell „viel“ und „preiswert“, im Laufe meines Fortkommens als Stoffwechsler habe ich mir mühsam das Bonuslevel „bitte nicht chemisch verarbeitet“ draufgeschafft. Ich kann mich meiner Begeisterung über das Dargebotene nicht erwehren und stecke mir beherzt den Kohlehydratbedarf einer Kleinfamilie ins Gesicht.

*die ich wahrscheinlich nicht Fritten sondern „Pommes Frittes“ oder „Kartoffelstäbchen“ nennen sollte um sie dem Etablissement ihrer Zubereitung anzupassen. Andererseits: Kartoffeln, in Stäbchen geschnitten, in heißes Öl geworfen, rausgeholt, gesalzen: Fritten.


Hinter uns belehrt ein Rheinländer mit heiserer Stimme seine Frau darüber, dass Helmut Schmidt der beste Kanzler aller Zeiten sei, weil er das mit der RAF in den Griff gekriegt habe. Außerdem gut sei Gerhard Schröder wegen der ganzen Wirtschaftskompromisse. Dabei isst er ein großes Stück Käsekuchen, sie kaut was Schokoladiges. „Wes Kuchen ich ess, des Schwachsinn ich anhör.“ denke ich mir, das ssie sich denkt. Und dann: Nach wievielen Jahren gibt man einfach auf?

Am Tisch hinter uns zwei Ladies, deren Haare sich das letzte Mal im Jahr des Queenbesuchs in Westberlin frei von Schaumfestiger bzw. 5 Kubikmeter Ellness Sprühnebel bewegt haben dürfen. Sie tragen identische Handtaschen in schwarzem Krokodilleder mit goldenen Schnallen. Auch die Frisurenfrage haben beide ähnlich gelöst: Ich würde es als „Bhegum“-Look bezeichnen. Ich verneige mich innerlich, als die größere von beiden nach 2 Stunden ihre stockgerade Sitzhaltung aufgibt um mit einer Eleganz, die manch halb so alte Frau nicht besitzt, auf Pfennigabsätzen an uns vorbei zurück in ihr Zimmer zu stöckeln. Davon abgesehen, dass sie scheinbar ausschließlich Kaffee zu sich nehmen und nur dort sind, um dem Kellner Geschichten über andere Gäste zu entlocken (die Gobelin-Halle scheint eine Art Schulhof der verrenteten Besserverdienenden und ihrer Testamentsnutznießerinnen zu sein), haben sie kein Business.

Heinz Hormann bestellt das zweite Bier, der Kamin wird angezündet und unsere Aufmerksamkeit wandert zum Duo aus älterer Dame im Rollstuhl und Begleiterin, die bereits da waren als wir kamen, in ihrer Ecke sitzend ohne etwas anderes zu tun als auf die Tür zu starren und sich ab und zu zischend anzugiften. Beide sind angetan in Variationen tiermotivbestickter Wollwaren. Alles eine Frage der Prioritäten, was das Ausgeben hart ererbten und erarbeiteten Vermögens angeht: Hotelzimmer mit Marmorfurnier und komplementärer 11 Euro-Sprudelflasche zur Begrüßung oder Oberbekleidung, die nicht aussieht wie aus den Restbeständen Ceauşescus Jugendweihegarderobe, das muss sich nunmal jeder selbst beantworten. Ihr heiß erwarteter Aufenthaltsgrund in der Gobelinhalle entpuppt sich irgendwann als Endvierziger mit Samthaargummi und Lederhose, der auftaucht und die beiden abholt, vielleicht zu einem kleinen Bummel zum Sanitätshaus.


Bevor auch wir verschwinden, bleibt Gelegenheit, die Wasserrechnung des Etablissmenents zu belasten. Auf dem Weg zu den Restrooms fällt der Blick auf Vitrinen in der Empfangshalle, voller Lycra mit lizensierten Aufdrücken der Namen von Menschen, die einst tatsächlich Mode entwarfen, heute eher auf dem Lohnzettel australischer Medienoligopolisten stehen und sich mit mageren britische Filmsternchen mit ausgeprägter Kinnpartie ablichten lassen. All die Sachen sehen Original aus wie Wochenangebote von Tchibo mit einem Hauch mehr Glitzer, ein Umstand, den ich nur deswegen erkenne, weil ich aus Recherchezwecken manchmal Wochenangebote von Tchibo heimlich durchs Schaufenster beobachte. Ich rechne aus, dass ich von dem Preis für eins der rentnerfarbenen Langarmshirts 20 Etageren köstlicher High Tea Spezereien verdrücken kann. Oder ein Wochenende sehr komfortabel an die Ostsee fahren kann. Ich weiß meine Frage nach Priorität zu beantworten, allein: Sie wird mir nicht gestellt. Mein Ausflug in die Dekadenz unter Berliner Bedingungen, die unter den Maßstäben anderer Städte Discounter-esk daherkommt, endet dort und dann, an einem der ersten warmen Nachmittage 2011 in Charlottenburg. Wir zahlen den High Tea, sogar mit Trinkgeld für den Dalmatiner und lassen ihn zurück zwischen Wandteppichen und einer neu angekommenen russischen Clique. Draußen denke ich, ich würd jetzt gern einen Kaffee trinken. Aber gefiltert, bitte.

Mittwoch, 9. März 2011

We can haz protest.

Ich war kürzlich demonstrieren. Das ist deswegen bemerkenswert, weil es neben "Löten" und "Kronkorken sammeln" zu von mir eher selten verfolgten Freizeit-Aktivitäten gehört. Die Scheu vor Massenaufzügen ist im Grunde genommen in meiner Biographie angelegt: So wurde meiner Mutter in den Wehen dringend dazu geraten sich "anzustrengen", damit ich nicht "marschieren muss" jedes Jahr. Dabei war die Hebamme nicht wahnsinnig, sie war nur pragmatisch und realistisch was die Örtlichkeit und Zeit meiner Geburt angeht, die Walpurgisnacht *irgendwann* in den 80ern in Ostdeutschland. Es war klar, sollte ich am 1. Mai zur Welt kommen, würde ich Jahr ums Jahr meinen Ehrentag mit der Errungenschaften der antifaschistischen Schutzwallerbauer teilen müssen, paradierende Sprengkörper hätten mit mir um Aufmerksamkeit um den schönsten Wimpel konkurriert, insgesamt hätte ich immer alten Männern zujubeln müssen bevor der Weg zu einer mit Dosenfrüchten aus dem "Exquisit" belegten Torte frei gewesen wäre.
Jetzt darf ich Torten mit Dosenfrüchten aus dem Aldi essen und das, ohne vorher auf den Thälmann-Platz zur Wimpelschwenkerei zu müssen. Danke, Helmut Kohl, Danke Mutter.

Freiwillig die Mühen des Aufstehens, Losgehens, Rumstehens, Gesehen werdens mit Menschen, die wahrscheinlich das eigene Anliegen teilen aber in Kleidung, Haarpracht, Schuhwerk und der Durchtdachtheit zu äußernder Parolen *bevor* sie den Kopf akustisch hörbar verlassen eventuell gänzlich andere Geschmackspositionen verteten: Dazu braucht es dann bei mir schon Motivation. Bezeichnederweise stammt diese in meiner gesamten Demonstrationsgeschichte in Empörung über Ungerechtigkeiten in der akademischen Welt. Dazu zähle ich zum Einen den Protest gegen Studiengebühren in Berlin 2004. Und es war die Demonstration gegen die Unwürdigkeit der Vertretung eines Bundesministeramts durch jemanden, der seine Doktorarbeit in großen Teilen abgeschrieben und sie als sein eigenes Werk ausgegeben hat.

Ich weiß nicht, warum ausgerechnet diese Themen bei mir für ein Protestpotenzial sorgen, dass sich einlöst ins Rausgehen und Gesicht zeigen. Als ich auf der Demonstration einen Freund treffe, der für eine Berliner Tageszeitung berichtet, entblöde ich mich nicht zu sagen (und werde damit auch noch zitiert), dass ein Krieg in Afghanistan mich nicht zum Protestieren bringt, sehr wohl aber diese Dissertationslüge. "Wozu habe ich denn die letzten 6 Monate an meiner Magisterarbeit gesessen? Geflucht, wenn draußen die Sonne schien, alle rausgingen und ich es nicht konnte weil ich das mit meinem Pensum nicht vereinbaren konnte?"

Vom larmoyanten Ton des chronischen overachievers und der moralischen Fragwürdigkeit ihres ins-Verhältnis-zu-Kriegen-setzen mal abgesehen: Die Dissertationslüge regt mich deswegen so auf, weil sie an eine Grundfeste der Überzeugung rührt, die mir Lehrer, Eltern, Professoren jahrzehntelang offenbar erfolgreich einredeten: Jeder Erfolg muss erarbeitet werden. Abkürzungen sind Selbstbetrug. Unaufrichtigkeit im Kleinen wird Unaufrichtigkeit im Großen. Irgendwer muss anfangen, gerade zu laufen, sonst merken die anderen nicht, wie schief sie selbst sind.

Es ist himmelschreiend naiv, es ist sehr wahrscheinlich unrealistisch, es ist ein Mythos. Aber ich bin nicht bereit, vielleicht noch nicht bereit, ihn aufzugeben gegen die zynische Einsicht, dass Nepotismus und Bestechlichkeit noch jedes Weltenrad mehr gedreht haben als das akademische Ideal von intersubjektiv nachvollziehbarer, im Rahmen des Möglichen selbstständig und unabhängig erarbeiteter Erkenntnis.

Es sind hohe Erwartungen und die Grenze zur Selbstgerechtigkeit in der Äußerung dieser wird auf der Demo überschritten mit Plakaten, auf denen "Erst Gaddafi, dann Guttenberg!"steht. Dennoch sind die Eiferer in der Minderheit. Die Masse an Demonstranten ist zwar hart in der Sache, aber locker im Gestus und im Fall einer Bekannten, die ich treffe über die farbliche Koordination von Sonnenbrille und mitgebrachten Protestschuh ein Plädoyer für Stringenz und Konsequenz auch in modischer Hinsicht.

Bevor ich mich noch mehr als entpolirisierten, aber moralisch noch erregbaren Ossi mit Vorliebe für Dosenobst und Fashionkritikerin für Demonstrationen entlarvte: Da bin ich auf dieser Demo mit diesen ganzen linken Socken und nicht einer von ihnen erkennt mit mir Klaus Staeck. Liebe Facebook-Revoluzzer: Kennt eure Vorfahren! Kennt ihre crazy analogen *memes*.





Sonntag, 16. Januar 2011

Vom Zwitschern und Fliegen

„Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare.“ sagt Matthias Rust während er den Stift ansetzt um ein Spionage-Geständnis zu signieren, das ihn einige Jahre in eine sowjetische Gefängniszelle wandern lässt. Kurz zuvor ist er in walking distance des Roten Platzes gelandet, die Inszenierung des Stückes „Rust- Ein deutsches Messias“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg lässt keinen Zwiebelturm in der Pappkulisse aus, um das gewahr werden zu lassen. Studio Braun, Inszenatoren des biographischen Schabernacks mit Durchbrüchen der dritten Wand etwa dann, wenn Heinz Strunk sich dem Kampf um die Besetzung der Rustschen Mutter stellen muss, bringt mit diesem Satz des als Inbegriff der Linkischkeit inszenierten Rust über mir eine zugegebenermaßen der Sparfraktion angehörende Glühbirne der Eingebung zum Brennen und ich denke an Julian Assange.

Die Floskel über die Formulare öffnet für mich die Verbindungstür zwischen Professor Rusti und Assange, diesen blassen, schlanken, jungen Männern, geeint in Spezialistenwissen, darauf basierenden Sendungsbewusstsein und der Bereitschaft, im Dienste dessen gegen Gesetze zu verstoßen. Ein bißchen Weltfrieden hätten die beiden gerne: Alle Menschen werden Brüder: Geeint in Luftraum und Informationen, letzteres von Bruns im Zusammenhang der Beschreibung kollektiver Produktionsprozesse im Begriff des „holoptism“ zusammengefasst: Jeder kann alles sehen und ist deswegen informiert genug, rationale Entscheidungen zu treffen um seine Fähigkeiten maximal nutzbringend einsetzen zu können. Ob im Eigennutz oder dem des sozialen Ideals einer Gemeinschaft, das bleibt undiskutiert. Bruns scheint eher Idealist als Psychologe zu sein und vernachlässigt die Motive in seiner Beschreibung netzbasierter, teilnahmeoffener Gemeinschaftsproduktion.

Dabei ist die Frage nach der Deutung des Auftritts des Ungewöhnlichen keine Uninteressante: Ist es Eigennutz oder Altruismus, der die Auskenner eint, über die lebensläufige Parallele der Anschuldigungen sexuell übergriffiger Art hinaus? Ist es das alte, häßliche Gesicht der Selbstdarstellung oder unschuldig- ungeduldiger Innovationsgeist, der jenseits von Egopflege Gutes will (und deswegen unbestritten Schlechtes bewirken kann). Für mich ist diese Frage nach dem Motiv wichtiger als eine Analyse der tools der jeweiligen Weltveränderungsidee. Die heißt bei Rust Cessna, bei Assange heißt sie wikileaks und bleibt doch jeweils eben nur das Werkzeug einer Idee. Wobei genau diese das ist, was das Verändernde ist:

Wikileaks ist nicht die große Revolution. Die große Revolution ist eine Idee, ein „mind set“, das als „everybody leaks“ beschrieben werden könnte: Die Bereitschaft, jedes Erlebnis, jede Lebensminute mit der Welt, die einem wiederfährt, zu teilen; ihr in barer Münze zurückzuzahlen, was sie einem (oder einer) an zickigen Kaffeeverkäufern, grantigen Busfahrern, olfaktorisch abenteuerlichen Mitbevölkerern des öffentlichen Raums entgegen bringt. Das populärste Werkzeug dieses mind sets ist dafür momentan wohl Twitter.

Twitter, dieses Icholot, dieser Sender der Befindlichkeitsbekenntnisse seiner Nutzer, die sich willfährig in eine peep show begeben auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Die Motivationen dafür liegen, das mutmaße ich mal in gewohnter Altklugheit vor mich hin, wie bei so ziemlich jeder Aktivität körperlich Erwachsener wohl in ökonomischen und/oder sexuellen Begehrlichkeiten oder aber in der Schnittmenge aus beidem: Es geht um Selbstdarstellung, Seelenstriptease, Produktpräsentation, Markenpflege. Dabei ist die Kalkuliertheit dieser Zwecke unterschiedlich ausgeprägt. Das weltenschlechte dieser Behauptungen weiter relativierend kann auch der kommunikationspsychologische Funktionszusammenhang von Selbstoffenbarung in Abhängigkeit vom Beobachten des Verhaltens der Anderen angeführt werden: Je mehr die Anderen preis geben, umso eher sieht sich der Einzelne nicht nur in der Lage, sondern auch verpflichtet dies zu tun, „die Preisgabe privater Informationen“ gilt „quasi als Vermittler sozialer Interaktion“, dabei sind „wichtige Gratifikationen, die Nutzer von Web 2.0 Angeboten erwarten, eng mit self-disclosure verbunden.“. Anders ausgedrückt: Wer Aufmerksamkeit will, muss offen sein (Und Ja, das ist die digitale Version von: „Wer ficken will, muss freundlich sein.“). Oder das überzeugende Gefühl vermitteln, dies zu sein.

Das Gefährliche und das Verführerische an Twitter ist dabei auch, dass es dem Bedürfnis des „venting“, des Dampf-Ablassens, digitales Werkzeug ist: Ohne hohe technische Hürden kann mit einem Adressatenkreis vermeintlich Gleichgesinnter (denn hey: My Netzwerk ist your Netzwerk, wir müssen uns ähnlich sein, wir digitalen Auskenner, wir early adopter mit der Fähigkeit, profundes wie banales in Haiku-esk von 140 Zeichen zusammenzufassen) geteilt werden, was Wichtig erscheint. Und da der Aufwand, dies zu tun, gegen Null geht solange die digitale Nadel smartphone jederzeit gesetzt werden kann, ist es auch müßig, die Mischung aus Banalität und Profundheit, tiefer Privatheit und höflich formulierten Programmhinweisen des Ersten Deutschen Fernsehens in einer Timeline zu konstatieren: Diese Mischung und der Wunsch nach Aufmerksamkeit, geleitet vom Gefühl, diese über Kommunikation, Selbstoffenbarung, Lästerei und weiß der Geier was zu erringen, ist es, die Twittern ausmacht und die dazu führt, mal eher tief und mal flach zu schürfen, mal nur mitzulesen, mal reinzuquatschen, mal zu verlinken, zu kommentieren und zu meckern.

Diese Mischung, in der Uses und Gratifications-Forschung als Gefühl der „Selbstwirksamkeit“ nachgewiesenen Mediennutzungsanreiz computervermittelter Kommunikation, ist es, die das Icholot befeuert. Dies wird maßgeblich gestützt vom Eindruck oder der imaginierten Möglichkeit im Netzwerk das eigene Signal abgleichen zu können mit einem oder mehreren anderen Nutzern. Der Reiz, öffentlich zu kommunizieren, was nur privat verstanden werden kann, ein Theaterstück zu spielen vor einem Zuschauerraum, von dem man nicht weiß, wer drin sitzt, wer zuschaut, wer lieber das Auto umparken geht und wer sowieso seit 2 Stunden im Foyer beim dringenden Telefonat mit dem Büro feststeckt, sorgt dafür, dass sich Menschen digitale Masken aufsetzen, enfant terrible-eskes schreiben, während sie mit Wollsocken im verschlissenen Pyjama auf der Couch sitzen, gänzlich unfatal rechterhands den Leonard Cohen Soundtrack ihrer Wunschidentität in der mobilen Youtube-Suche zusammenklauben während die linke Hand zu Erdnussflips und dem Digitalreceiver sowie der Aufzeichnung der neuesten Folge „In aller Freundschaft“ greift.

Beachtenswert: Kein twitter auf dem anwesenden Bildschirm.

Die Möglichkeit einer digitalen Maskerade, die verhüllt, wozu es analog nicht reicht, verführt zu Verbal-Dhiarroe und mehr noch: Sie reizt zu einem Verhalten, das Menschen mit küchentischpsychologischen Halbwissen wie ich als „passiv agressiv“ bezeichnen würden. Lieber gesenkten Hauptes die digitale Zunge spitzen als den Mut zu haben, reale Meriten (und reale blaue Flecken) zu riskieren mit einem herzhaft laut ausgesprochenen „Arschloch“ beim morgendlichen Rempler in der vollgestopften U-Bahn oder anderen Ärgernissen. Lieber in Anonymität in Ruhe Hass absondern gegen den Chef als den unbequemen Unbill von Kündigung und folgender Ungewissheit auf sich nehmen. Lieber Beschwerden über die Orgasmusgeräusche der Nachbarn verbreiten als darüber nachzudenken, wie traurig es ist, dass man selbst nicht Verursacher dieser Geräusche ist und so gänzlich mit Analogen Amouren beschäftigt, dass Dezenz und Snarkiness verschwinden.

Die Ironie der Tatsache, dass ich all dies semi-anonym blogge, bleibt mir übrigens nicht verborgen. Andererseits ist Konsequenz nichts, wofür ich hier bezahlt werde, da nichts hier irgendwas ist, wofür ich bezahlt werde. Insofern gönne ich mir das, als Junkie die Wirkungsweise der Nadel zu beklagen.

Womit ich mit anderen Worten sagen möchte: In diesem Abrechnungstext zu digitaler Maskerade hat sich auch ein Quentchen Selbstkritik versteckt. Immerhin: Ich habe letztens, als die schreckliche Nachbarin die ihr eigene Mischung aus Christina Aguilera und Damien Rice in Stadionlautstärke laufen ließ, einfach mal geklingelt und sie analog darum gebeten, dies zu unterlassen. Und es hat geklappt! Der reale Mist hat aufgehört. Mit der Folge, ihn digital nicht mehr dokumentieren und im Icholot mit der Hoffnung auf Anschluss unter dieser Nummer verlautbaren zu können. Die entscheidende Frage ist, ob das immer der Preis ist, den wir bereit sind zu zahlen.